multikulturelle Frage

A: masʼala mutaʽaddida aṯ-ṯaqāfāt. – E: multicultural question. – F: question multiculturelle. – R: mul’tikul’turnyj vopros. – S: cuestión multicultural. – C: duōyuán wénhuà wèntí 多元文化问题

Sauli Havu, Juha Koivisto

HKWM 9/II, 2024, Spalten 1543-1562

»Multikulturelle Gesellschaften sind nicht neu. […] Die griechischen, römischen, islamischen, ottomanischen und europäischen Reiche waren alle in unterschiedlicher Weise sowohl multiethnisch als auch multikulturell« (Hall 2000/2004, 191). Es ist eher so, dass kulturelle Diversität den vermeintlich homogenen nationalen Kulturen vorausgeht, die den »ethnischen Mischmasch der modernen Nationalität als ursprüngliche Einheit ›eines Volks‹« darstellen (1993, 356). Die Vorstellung einer ursprünglichen kulturellen Homogenität basiert also auf »erfundenen Traditionen« (Hobsbawm 1983, 1f). Die von Anfang an vorhandene »Hybridität des modernen Nationalstaats« ist in der Phase der Globalisierung nach 1945 »verbunden mit einer der größten Bewegungen erzwungener und frei gewählter Migration« (Hall 1993, 356). Dadurch wurden »die westlichen Nationalstaaten, bereits unumkehrbar ›diaspora-isiert‹, […] unentwirrbar multikulturell – ethnisch, religiös, kulturell und sprachlich – durchmischt« (ebd.).

Der Ausdruck Multikulturalismus, der in der zweiten Hälfte des 20. Jh. entstanden ist (The Oxford English Dictionary, 2.A., Oxford 1989, Bd. 10, 79), bereitet »besondere Schwierigkeiten« (Hall 2000/2004, 189). Es handelt sich um »keine einzelne Doktrin« (ebd.). Gerade das aber suggeriert der ›-ismus‹. Was darunter zu verstehen ist, ist selbst unter Anhängern zutiefst umkämpft, denn Multikulturalismus verweist auf »eine ganze Vielfalt politischer Strategien und Prozesse« (ebd.). Die Gegner sind sich sicher, dass der Multikulturalismus der Grund für den ›drohenden Untergang der westlichen Zivilisation‹ oder wenigstens für die Probleme auf dem lokalen Wohnungs- und Arbeitsmarkt sei.

Stuart Hall zieht daraus den Schluss: Multikulturalismus ist als theoretisches Konzept untauglich. Stattdessen schlägt er vor, die mF, die mit der Entwicklung von Kolonialismus und Imperialismus ihre Form verändert, zu rekonstruieren (191). Die Wurzeln vieler unter ›Multikulturalismus‹ behandelter Konflikte sind eigentlich woanders zu suchen: Soziale »Unterprivilegierung, wirtschaftliche Verdrängung, allgegenwärtige Arbeitslosigkeit, Degradierung der Milieus sowie Hoffnungslosigkeit« führen »zu einer defensiven Mobilisierung von Differenz« und »damit zu ethnischen Spannungen, klasseninterner Gegnerschaft, Rassenkonflikten [race conflicts], sozialer Entfremdung und Unruhen« (2003/2014, 185f). ›Multikulturalismus‹ fungiert in diesem Feld als sprachlicher »Container«, in den zumal »westeuropäische Nationen Ängste gegossen haben« (Rattansi 2011, 5). Die Ursprünge dieser Ängste »liegen oft in gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Veränderungen, die viel weitreichender sind als diejenigen, die aus den Folgen von Einwanderung und multikulturellen Politiken resultieren« (ebd.).

Jede sachgemäße Analyse der mF muss eine Reihe von Verschiebungen und Verdichtungen in den Blick nehmen. Die in Konflikt stehenden gesellschaftlichen Verhältnisse werden als Unterschiede zwischen ›Rassen‹ bzw. Ethnien ausgedrückt. Alte und neue politische wie intellektuelle Diskurse nähren solche rassifizierten bzw. ethnifizierten Konflikte, versöhnen oder verschärfen sie. Sie wirken auf den Alltagsverstand zurück und lagern sich als ›moderne Folklore‹ ab. Antonio Gramsci setzt sich schon 1926 in seinem Manuskript zur Südfrage mit der auch im Proletariat verbreiteten bürgerlichen »Ideologie« auseinander, wonach die Schuld für die Rückständigkeit des Südens »nicht im kapitalistischen System oder in welcher anderen historischen Ursache auch immer« zu suchen sei, »sondern in der Natur, die die Süditaliener zu Faulenzern, Versagern, Kriminellen, Barbaren gemacht hat«, die mithin »biologisch minderwertig« sind (SuS, 59).

Alle Kulturen enthalten »widersprüchliche Elemente« und sind »intern nahezu ausnahmslos machtpolitisch und klassenmäßig gespalten« (Hauck 2006, 420). Deswegen ist es notwendig, sie aus der Perspektive der Hegemonie zu betrachten: »Tatsächlich sind sehr wenige Gesellschaften, wenn es überhaupt eine gab, kulturell homogen […]. Die meisten Gesellschaften mit komplexen Strukturen erhalten ihre ›Einheit‹ durch Herrschafts- bzw. Unterordnungsverhältnisse zwischen kulturell verschiedenen und nach Klassen differenzierten Schichten […]. Komplexität und Einheit zu denken erfordert, dass wir uns auf die Mechanismen der Macht, der Legitimation und der Herrschaft konzentrieren: auf Hegemonie.« (Hall 1977/2021, 142) Letztlich geht es darum, »wie Differenz in die Art und Weise hineinspielt, wie Reich und Arm […] einen gemeinsamen Raum, ein gemeinsames Leben aushandeln müssen. Das ist die ›mF‹!« (2008/2019, 298)

Anerkennung, Angst/Furcht, Arbeitsmarkt, Armut/Reichtum, Artikulation/Gliederung, autoritärer Populismus, Biologismus, Black Marxism, Bündnispolitik, Chauvinismus, Dritte Welt, Emigration, Entkolonisierung, Ethnie/Ethnizität, Ethnozentrismus, Eurozentrismus, Exklusion, Feminisierung der Arbeit, Feminismus, Frauenarbeit, Frauenemanzipation, fremd/Fremdheit, Gemeinschaft, Geschlechterverhältnisse, globale Stadt, Globalisierung, Globalisierungskritik, Haitianische Revolution, Handlungsfähigkeit, Hegemonie, Heimat, Herrschaft, Ideal, Identifikation, Identität, Identitätspolitik, Imperialismus, Indiofrage, indoamerikanischer Sozialismus, innerer Kolonialismus, Irische Frage, islamischer Fundamentalismus, Kaliban, Kolonialismus, Kopftuchstreit, Kosmopolitismus, Krieg der Kulturen, Kultur, Kulturimperialismus, Kulturstudien (Cultural Studies), Laizität, Machismus (machismo), Malinchismus, Marginalisierung, Mariateguismus, Menschenrechte, Mestizaje, Migration, multikulturelle Politiken, multinationale Arbeiterklasse, Nation, nationale Minderheiten, Nationalstaat, Naturalisierung, Neokolonialismus, Neue Soziale Bewegungen, Orientalismus, Patriarchat, pluraler Universalismus, Pluralismus, Politik des Kulturellen, Postkolonialismus, Rasse/Klasse/Geschlecht, Rasse und Klasse, Rassismus, Ressentiment, Sklaverei/Sklavenhaltergesellschaft, Solidarität, Spaltung, Sprache, Subalternität, Südfrage, Toleranz, Tradition, transkulturelle Psychiatrie, Überdeterminierung, Übersetzung/Übersetzbarkeit, Universalismus, Unterdrückung, Volk

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m/multikulturelle_frage.txt · Zuletzt geändert: 2024/02/05 23:23 von christian     Nach oben
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