Moderner Sozialismus
A: al-ištirākīya al-ḥadīṯa. – E: modern socialism. – F: socialisme moderne. – R: sovremennyj socializm. – S: socialismo moderno. – C: xiàndài shèhuìzhǔyì 现代社会 主义
Peter Jehle
HKWM 9/II, 2024, Spalten 1200-1209
Das als »Perestrojka« (russ. für Umbau, Umgestaltung, Umstrukturierung) bekannt gewordene und mit dem Namen Michail Gorbatschow verbundene Reformkonzept, gewiss nicht unbeeinflusst von den radikalen Reformen in der VR China unter Deng Xiaoping, hat auch das kritische Nachdenken in anderen Staatssozialismen beflügelt. In der DDR konstituierte sich in diesem Zusammenhang 1988 ein Forschungsprojekt von SED-Mitgliedern an der Humboldt-Universität Berlin unter dem Titel Philosophische Grundlagen der Erarbeitung einer Konzeption des modernen Sozialismus. Dass das Projekt zustande kam, war »fast ein Wunder« (A.Brie 1993, 45), denn maßgebliche Teile der Partei- und Staatsführung der DDR lehnten die von der SU ausgehenden Reformbestrebungen entschieden ab. Zu seinen Sinnbedingungen gehörte, dass die Eigentumsfrage zwar grundsätzlich gelöst war, indem die gesellschaftlichen Produktionsmittel privater Verfügungsgewalt entzogen waren, dass aber nicht die Produzenten und ihre Basisorganisationen darüber verfügten, sondern ein Machtapparat, der sich über der Gesellschaft festgesetzt hatte. Daher die Diagnose, der Sozialismus des späten 20. Jh. stehe vor Herausforderungen, »die sich grundlegend von denen unterscheiden, mit denen er […] bei seinem welthistorischen Entstehen konfrontiert war«, und folglich »ein höherer Entwicklungstyp des Sozialismus« – mithin ein »moderner« – herauszubilden sei (M.Brie/Land/Segert 1989, 4f).
Dabei hielten die am Umbau-Projekt Beteiligten 1989 an der von der sozialistischen Bewegung in die Menschheitsgeschichte eingebrachten »grundlegenden Innovation« fest, »alle technische und ökonomische Entwicklung bewusst so zu gestalten, dass positive soziale Effekte für die Menschen, insbesondere für die Arbeitenden und sozial Unterprivilegierten, erreicht werden« (M.Brie u.a., Umbaupapier, 58). Das Attribut ›modern‹ markiert die Differenz zu den bisherigen »befehlsadministrativen Methoden der Führung« (Gorbatschow 1988, 45), ohne jedoch die »sozialistische Perspektive des einzuleitenden Wandels« aufzugeben, wie es in dem auf den 29. Oktober 1989 – wenige Tage vor dem Fall der Mauer am 9. November – datierten Vorwort heißt (Umbaupapier, 38). Generell habe die ›moderne Gesellschaft‹ ihren Namen erst dann verdient, wenn es ihr gelinge, die Produktivkraftentwicklung in der Perspektive des zivilisatorisch Verallgemeinerbaren – des der Menschheit und ihrem Wohnort, dem Planeten Erde, Zuträglichen – zu organisieren.
In der Umbruchsituation, als die bisherige Führung der SED auf einem Sonderparteitag im Dezember 1989 gestürzt worden war, schien der »Gruppe ›Sozialismustheorie‹ […] in der Programm-Not plötzlich eine Schlüsselrolle« (Haug 1990a, 208) zuzufallen. Massenhafte Auswanderung, Hunderttausende auf den Straßen und die Neuformierung politischer Kräfte hatten jedoch bereits im Januar 1990 gezeigt, dass es kein Vertrauen in die Reformfähigkeit der Staatspartei mehr gab. Mit »atemberaubender Geschwindigkeit« brach »die soziale Welt, genannt DDR, vor den Augen und zunehmend auch hinter dem Rücken der Akteure zusammen« (Engler 1991, 83). Hinzu kam, dass auch der »Reformflügel« innerhalb der inzwischen zur SED-PDS umbenannten Regierungspartei im Januar 1990 bereits »wieder in der Minderheit« war und »von einer praktischen Wirkung auf Politik ausgeschlossen« wurde (Land 1990b). Die Hoffnung auf »eine Reform des Machtapparats von innen heraus« (Segert 2008, 75) hatte sich zerschlagen.
Von außen, von der Regierung der BRD, wurde der Prozess mit nicht weniger Nachdruck vorangetrieben, ging es doch nicht nur um die »Zerstörung der DDR«, sondern auch darum, das »neue Deutschland« im Blick auf Westintegration und »gemeinsamen europäischen Binnenmarkt« zu einem »politischen und ökonomischen Machtfaktor« zu machen (Böhlke 1991, 117). Mit dem von der BRD diskussionslos vorgegebenen Ziel der Reprivatisierung des gesellschaftlichen Produktivvermögens geriet das auf einen MS zielende Umbau-Projekt vollends unter die Räder eines im Rückblick als ›Wende‹ alternativlos vereindeutigten politischen Prozesses. Doch auch wenn den Reformern ihr eigentliches Objekt – die gesellschaftlichen Verhältnisse der DDR mit ihren formell vergesellschafteten Produktionsmitteln – abhandengekommen war, behalten ihre Überlegungen für eine quer zum bisherigen Systemgegensatz von Kapitalismus und (Staats-)Sozialismus situierte Reformperspektive ihren Wert.
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