Materialismus, geographischer
A: al-māddīya al-ǧuġrāfiya. – E: geographical materialism. – F: matérialisme géographique. – R: geografičeskij materializm. – S: materialismo geográfico. – C: dìlǐ wéiwù zhǔyì 地理唯物主义
Rolf Czeskleba-Dupont
HKWM 9/I, 2018, Spalten 177-191
Geographische Bedingungen, seien sie natürliche oder durch Arbeit bereits veränderte Umwelten menschlicher Vergesellschaftung, werden als materielle Lebensverhältnisse menschlicher Tätigkeit wirksam. Die Frage nach dem Einfluss dieser Bedingungen auf gesellschaftliche Entwicklung bildet den gemeinsamen Hintergrund verschiedener Ansätze eines gM.
Karl Hermann Tjaden bestimmt »ökonomische Gesellschaftsformationen als Formen der gesellschaftlichen Bewältigung des materiellen Austausches zwischen menschlicher und außermenschlicher Natur«; insofern »sind die Formen menschlicher Vergesellschaftung in bestimmten Naturverhältnissen begründet, in ihnen vermittelt und auf sie bezogen« (1977, 11). Wenn Engels unter »ökonomischen Verhältnissen, die wir als bestimmende Basis der Geschichte […] ansehen«, die Art und Weise versteht, »worin die Menschen einer bestimmten Gesellschaft ihren Lebensunterhalt produzieren und die Produkte untereinander austauschen«, so umfassen diese Verhältnisse auch die »geographische Grundlage, worauf diese sich abspielen« (an Borgius, 25.1.1894, 39/205).
Die von Ludwig Woltmann aufgebrachte Bezeichnung »gM« (1900, 6) wird in den 1920er Jahren von Karl August Wittfogel, dem China-Spezialisten der KPD, begrifflich aufgearbeitet. Wittfogel zufolge gelang Montesquieu der »Durchbruch zu einer […] geographisch-materialistischen Geschichtsphilosophie« (1929, 490). Die »bürgerlich revolutionären Denker« kennzeichne ein aus der »Sphäre des sich industrialisierenden Wirtschaftsprozesses« dringender »naturwissenschaftlicher Zug« (486); sie suchten die »bisher herrschende Geschichtsschreibung durch eine materialistische Betrachtung zu ersetzen […], wobei ihnen das bestimmende Moment […] ein Teil oder die Gesamtheit der geographischen Momente zu sein schien« (496). Unter Bezug auf Marx, Engels, Plechanow u.a. entwickelt Wittfogel ein an der Dialektik von natürlichen und gesellschaftlichen Produktivkräften ansetzendes historisch-kritisches Verständnis des gM und deckt einen – bis ins 21. Jh. fortwirkenden – geographischen Geschichtsdeterminismus auf. Aus letzterem sieht er zumal die zeitgenössische Debatte um »Geopolitik« als »Rückbildung« (500) hervorgehen. Gegen sie, die »zwischen 1916 und 1944 […] in den publizistischen Kämpfen gegen die Versailler Verträge, dann zur Legitimation der NS-Großraumpolitik ihren Höhepunkt« erreichte (Teschke 2001, 323), bringt Wittfogel das aufklärerische Konzept des gM und seinen eigenen, vom »Naturmoment in der marxschen Geschichtskonzeption« (1929, 500) ausgehenden Ansatz in Stellung.
In der marxistischen Debatte geriet Wittfogels Arbeit ins Abseits, auch weil sich mit Stalin und Mao ein Verständnis gesellschaftlicher Entwicklung durchsetzte, das von natürlichen und geographischen Bedingungen weitgehend abstrahiert. Wittfogels Auseinandersetzung mit Natur und Geographie als sich verändernde Bedingungen gesellschaftlicher Entwicklung kann jedoch fruchtbar gemacht werden für die Suche nach einer Lebensweise, in der »die assoziierten Produzenten […] ihren Stoffwechsel mit der Natur rationell regeln, […] statt von ihm als von einer blinden Macht beherrscht zu werden« (Marx, K III, 25/828).
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