Naturalisierung
A: taṭbīʽ. – E: naturalisation. – F: naturalisation. – R: naturalizacija. – S: naturalización. – C: zìránhuà 自然化
Thomas Barfuss (I.), Anika Thym (II.)
HKWM 9/II, 2024, Spalten 2015-2042
I. Unter N wird in einem kritischen Sinn das Legitimieren historisch bedingter Gesellschaftsverhältnisse durch Verweis auf ihre vermeintliche ›Natürlichkeit‹ verstanden. Stuart Hall sieht N-Effekte dort am Werk, wo »Diskurse«, welche die gesellschaftlichen Verhältnisse mitformen, »kraft der Natur als gerechtfertigt, verbürgt und somit als dauerhaft, fixiert, unbeweglich und transhistorisch« auftreten (1994/2018, 80). In Form geschlechtlicher Normen etwa können sich die Verhältnisse in die Körper einschreiben. Es kommt zur »Vergesellschaftung des Biologischen und der Biologisierung des Gesellschaftlichen in den Körpern und in den Köpfen« (Bourdieu 1998/2005, 11).
Marx und Engels wenden sich scharf gegen die Tendenz, Geschichte in Natur verschwinden zu lassen oder umgekehrt Natur aus der Geschichte auszuschließen. Zugleich wird N von Marx nicht nur als Herrschaftstechnik analysiert, sondern ebenso als schwierig zu durchschauende »Mystifikation der kapitalistischen Produktionsweise«, im Zuge derer sich »die wirklichen Produktionsagenten« in den »entfremdeten und irrationellen Formen […] völlig zu Hause fühlen« (K III, 25/838). Bürgerlich-kapitalistische Kategorien werden so spontan auf die gesamte Menschheitsgeschichte ausgeweitet und erscheinen als naturgegeben.
II. Geschlechterverhältnisse. – Bezogen auf Geschlecht beschreibt N den Vorgang, hierarchische Geschlechterverhältnisse in ›der Natur‹ zu verankern. Diesen Prozess als gesellschaftlichen und damit politischen zu beschreiben, verweist auf die historische und kulturelle Kontingenz der herrschenden binären cis-hetero-patriarchalen Geschlechterordnung und impliziert eine herrschaftskritische Perspektive.
Je nach Ansatz kann N zwei unterschiedliche gesellschaftliche Prozesse bezeichnen. Erstens meint N die Legitimierung historisch und kulturell bedingter Diskriminierung aufgrund des Geschlechts, indem patriarchale Geschlechterdifferenzen und -hierarchien als naturbedingt dargestellt werden (Purtschert 2008, 55). Es handelt sich um einen »Legitimierungsakt, der nicht als solcher ausgewiesen wird, sondern seine Begründungskraft durch den Verweis auf die Natur erhält« und somit »unangreifbar gemacht« werden soll (56). Dies zementiert zugleich den Eindruck, die Geschlechterdifferenz selbst habe ihre »Grundlage in der menschlichen Natur« (Maihofer 2001, 483). Dagegen zeigt N-Kritik auf, dass das biologische Geschlecht (sex) keineswegs das soziale Geschlecht (gender) und heterosexuelles Begehren (desire) determiniert. Vielmehr stellt der starre Zusammenhang dieser drei eine gesellschaftlich kontingente Anforderung und ein historisch spezifisches Zwangsverhältnis dar (Butler 1990/2020, 22f).
Zweitens beschreibt N den gesellschaftlichen Prozess, welcher geschlechtliche Normen durch Sozialisation, Disziplinierung und Habitualisierung den Körpern einverleibt und somit ›zu Natur macht‹. Diese naturalisierte Materialität von Geschlecht bezieht sich auf einen »weiblichen« oder »männlichen Habitus« (Bourdieu 1998/2005, 46) und »Geschlecht als Existenzweise« (Maihofer 1995): »zu einer Frau oder einem Mann zu werden, ist vor allem ein gesellschaftlich-kultureller Prozess, ein Sozialisationsprozess, der unter anderem den Körper, die Psyche, die Denk-, Gefühls- und Handlungsweisen umfasst« (2015, 631). Frigga Haug und Mitforschende untersuchen mit dem nicht-essenzialistischen Begriff »Frauenformen« die »Handlungsfähigkeit/Unfähigkeit« von Frauen, indem sie »die Verhältnisse, in denen Frauen leben und wie sie sie ergreifen«, in den Blick nehmen und zugleich »die Aktivität der Einzelnen bei ihrer Formierung« betonen (1983, 8). Sie richten ihr Augenmerk also »auf das in Herrschaftsverhältnissen Hergestellte der Gesellschafts- und Subjektstrukturen« (Meyer-Siebert 1999, 869).
Gelegentlich wird N affirmativ und nicht kritisch verwendet, z.B. wenn in den Neurowissenschaften versucht wird, »menschliches Verhalten durchgängig als natürliches Phänomen zu deuten« (Purtschert 2008, 55), also das Soziale direkt und funktional aus der Natur zu erklären. Auch hier wird »Natur zur Legitimierung sozialer Herrschaftsverhältnisse herangezogen«, insofern »das soziale Geschlecht durch die Reduktion auf das biologische Geschlecht festgeschrieben und als unveränderlich definiert« wird (57). Wie jedoch bereits Simone de Beauvoir betont, kann Verhalten bei aller Relevanz des Körpers als je spezifischer »Zugriff auf die Welt« (1949/2011, 59) nicht ausschließlich aus dem Körper, der Natur oder der Biologie erklärt werden: »Nicht als bloßer Körper, sondern als Körper, der Tabus und Gesetzen unterworfen ist, wird sich das Subjekt seiner selbst bewusst, erfüllt es sich: Es bewertet sich selbst nach einem bestimmten Wertsystem. Und es ist nicht die Physiologie, die Werte begründen könnte: Vielmehr nehmen die biologischen Gegebenheiten die Werte an, die der Existierende ihnen gibt« (61).
Die Kritik an Prozessen der N schließt zugleich nicht aus, dass Natur und Körperlichkeit eine eigene Existenz und Funktionsweise und durchaus auch Konsequenzen für das gesellschaftliche Leben haben. So implizieren die menschlichen Organe für Sehen, Hören, Fühlen usw. und für die Lautproduktion dazu passende Ausgestaltungen sozialer Ordnungen (vgl. Haraway 1988/1995, 80-83). In der Geschlechtermedizin werden daher die »wechselseitigen Effekte« von Biologie und Verhalten, sex und gender, Natur und Kultur untersucht (Oertelt-Prigione/Hiltner 2019, 748).
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