Marxismus-Leninismus
A: mārksīya līnīnīya. – E: Marxism-Leninism. – F: marxisme-léninisme. – R: marksizm-leninizm. – S: marxismo-leninismo. – C: Mǎliè zhǔyì 马列主义
Wolfram Adolphi
HKWM 8/II, 2015, Spalten 1901-1937
In der Verbindung der Namen Marx und Lenin unmissverständlich auf Überwindung der kapitalistischen Verhältnisse zielend, tritt der ML gleichwohl nicht so sehr als Revolutionsaufruf ins Leben denn als zentralistische Anweisung, gerichtet auf Herrschaftssicherung einer kommunistischen Partei. Die Komintern, Sachwalterin des weltrevolutionären Führungsanspruchs der KPR(B), beschließt im Juli 1924 auf ihrem 5. Kongress Thesen über die Propagandatätigkeit, in denen die Aufgabe gestellt ist, »durch eine planmäßige und energische Propaganda den gesamten Marxismus-Leninismus zum besten Besitz jedes Parteimitglieds zu machen« (Komintern, 1986, 167). Der Term ML erscheint unvermittelt; er ist nicht definiert und wird auch nicht konsistent verwendet. In den Thesen über die Bolschewisierung der kommunistischen Parteien vom April 1925 (196-226) fehlt er ganz; statt seiner gilt der Term »Leninismus«. Aber nicht das ist entscheidend, sondern die Etablierung des einen wie des anderen als Kampfbegriff. Zu kämpfen sei gegen »rechte und linke Abweichungen vom ML«; diese hätten als »Abweichungen von der Klassenideologie des Proletariats« überhaupt zu gelten, und zu deren Überwindung bedürfe es der »Bolschewisierung« der KPn (166), mithin – so die Thesen zur Taktik vom Juli 1924 – ihrer Umwandlung in »zentralisierte« Parteien, die »keine Fraktionen, Strömungen oder Gruppierungen« zulassen und »wie aus einem Guss« handeln (164).
Dem ML ist die Tragödie eingeschrieben: Die Herrschaftssicherung überwältigt das Emanzipatorische; das vom sozialistischen Ideal angetriebene und von der Schärfe der konterrevolutionären Reaktion zusätzlich befeuerte millionenfache Verlangen nach einem theoretisch fundierten, für die Massen verständlichen, auf die Praxis orientierenden Leitfaden revolutionären Handelns überwältigt seinerseits den Zweifel. Die Komintern-Anweisung erreicht ihre Adressaten mit jener »Macht einer Selbstverständlichkeit«, die Georges Labica dem ML auch noch sechzig Jahre später zuschreibt (1986, 9). Das »Selbstverständliche« sind drei Kernbotschaften. Erstens: das »Uns aus dem Elend zu erlösen« der seit Jahrzehnten in vielen Sprachen gesungenen Internationale ist ›gesetzmäßig‹ grundiert in einer historisch vorgegebenen Abfolge der Gesellschaftsordnungen; zweitens: Trägerin des dem ›Gesetz‹ zum Durchbruch verhelfenden revolutionären Kampfes ist die Arbeiterbewegung, die, um diesen Kampf erfolgreich gestalten zu können, der Führung durch eine vor allen anderen Einsicht in den Gang der Welt besitzende kommunistische Kaderpartei bedarf; drittens: die SU ist der lebendige, für die Arbeiterbewegung der ganzen Welt vorbildliche und von ihr zu verteidigende Beweis für die Richtigkeit von erstens und zweitens.
Das Versagen der Sozialdemokratie im Kampf gegen den heraufziehenden Ersten Weltkrieg und ihr Zurückweichen in der revolutionären Nachkriegskrise taten ein Übriges. Lenin erscheint als die Verkörperung von revolutionärem Erfolg und revolutionärer Hoffnung zugleich; es hat Folgerichtigkeit, nach seinem Tode einen Identität stiftenden Leninismus zu denken und noch mehr: Lenin an die Seite von Marx zu stellen und beider Namen und Leistungen im ML verbunden zu sehen. Die »Vorkämpfertheorie«, als welche die Komintern den ML offeriert (1924/1986, 167), wird rasch und weithin populär. Antonio Gramsci vergleicht das Verhältnis von Lenin zu Marx mit dem von Paulus zu Christus. Der eine habe die Weltauffassung geschaffen, der andere mittels »Organisation« und »Aktion« ihre »Ausbreitung« betrieben; das Christentum sei daher im »genaueren Ausdruck […] Christentum-Paulinismus« (Gef, H. 7, §33). Stalin, den nationalen und internationalen Ideologiebedarf in der krisengeschüttelten nach-revolutionären Periode vor Augen, wird zum eigentlichen Schöpfer des ML, wobei er sich »hinter Lenin unsichtbar« macht (Labica 1986, 17).
Der Sieg der SU im Zweiten Weltkrieg verleiht dem ML neue Kraft und verschärft zugleich die ihm innewohnenden Widersprüche. 1989/90 geht mit der SU und den Staaten ihres europäischen Herrschaftsbereichs der dort zur »Offizialphilosophie« und »Staatsräson« (35, 57 u. 59) gewordene ML unter. Seine anti-emanzipatorische Erstarrung ist Mit-Ursache und Bestandteil dieses Untergangs. Mit ihm verschwindet die in seiner »zugleich geistigen und empirischen Existenzweise« (10) aus »Büchern, Menschen, Gesellschaften, Politiken« geformte »planetarische Geographie« (9). Die Geschichte des ML scheint an ihr Ende gekommen; Unabgegoltenes ist – jedenfalls in Europa – nicht erkennbar. Dass in China Anfang des 21. Jh. KP-Generalsekretär Xi Jinping dennoch von der Notwendigkeit spricht, bei der Gestaltung des »Sozialismus chinesischer Prägung« an der »Entwicklung, Fortsetzung und Erneuerung des ML und der Mao-Zedong-Ideen« festzuhalten, andernfalls »unsere Wurzeln verloren gingen« (2013, 9), nährt die Vermutung, dass der ML auch jetzt nicht als »Höherentwicklung« des Marxismus, als »die wissenschaftliche Theorie der Arbeiterklasse, des Sozialismus und Kommunismus« (PhWb, 1969, 671) auftritt, sondern als Ideologie einer nachholenden Modernisierung, die auch jetzt wieder den ›Glutkern‹ des Marxismus – den »kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist« (KHR, 1/385) – zugunsten der »Legitimation fortbestehender Gewaltverhältnisse« (Negt 1969, 15) opfert.
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