Nationalstaat

A: daula waṭanīya. – E: nation state. – F: État-nation. – R: nacional’noe gosudarstvo. – S: estado-nación. – C: mínzú guójiā 民族国家

Jan Otto Andersson (FeW)

HKWM 9/II, 2024, Spalten 1955-1968

Der Begriff N setzt sich aus zwei Bestandteilen zusammen, die beide älter sind als er selbst. Die Verbindung von Nation und Staat zum N ist ein Ergebnis der Entwicklung zum und im Kapitalismus. Die N.en unterscheiden sich u.a. nach Entstehung, Größe, politischem System, ökonomischer Entwicklung, zentralistischer oder föderaler Struktur. Allgemeines Merkmal ist das Prinzip der Souveränität und des Gewaltmonopols in einem begrenzten Territorium mit einer (zumindest meist) mehrheitlich als Nation formierten Bevölkerung. N.en sind im Rahmen eines zunächst merkantilistisch und kolonialistisch, seit dem 19. Jh. zunehmend kapitalistisch strukturierten Weltmarkts entstanden und wurden so zu einem Teil des kapitalistischen Weltsystems.

In bürgerlicher Perspektive behandelt ein idealer N seine Bevölkerung als Gesamtheit von Bürgern – im Sinne von Citoyens – mit konkreten politischen, sozialen und kulturellen Rechten und Pflichten. In einem kapitalistischen Staat sind bestimmte ökonomische Rechte entscheidend: Eigentumsrechte an Land und Produktionsmitteln, staatlich garantierte Durchsetzung von Verträgen und die Freiheit, fremde Arbeitskraft zur Profitproduktion einzusetzen. Eine Mehrheit der Bürger identifiziert sich mit der Nation und dem Staat und entspricht den ihr auferlegten Pflichten: die Gesetze zu respektieren, Steuern zu zahlen und ›ihr‹ Land zu verteidigen. Gemäß den Verfassungen bürgerlich-liberaler N.en geht die legitime Gewalt vom Volk aus, also von den Staatsbürgern und nicht von Herrschern, Oligarchenfamilien oder Stammesführern. Dabei bilden die N.en je spezifische Formen der Ungleichheit und Unterdrückung aus, vielfach sind sie nach innen durch eine Diskriminierung nationaler Minderheiten und nach außen von aggressivem Nationalismus geprägt.

Aus marxistischer Sicht wurde die nationalstaatliche Entwicklung v.a. in Bezug auf strategische Fragen diskutiert: Wie soll sich die Arbeiterbewegung – unter den unterschiedlichen Bedingungen der jeweiligen staatlichen Ordnung – zur nationalen Frage positionieren, bes. in multiethnischen Reichen wie dem österreich-ungarischen, russischen oder osmanischen? Können die N.en Teil einer sozialistischen Transformation der Gesellschaft werden oder sind (starke) nationale Bindungen ein Hindernis für die proletarische Revolution? Die Antworten fallen konträr aus und bedürfen v.a. unter den globalen Bedingungen des zur Weltherrschaft gelangten Hightech-Kapitalismus im 21. Jh. der Überprüfung und Revision.

Ableitung, Antikolonialismus, Austromarxismus, Bourgeoisie, Chauvinismus, Demokratie, Europa, europäische Integration, Feudalismus, Feudalismus-Debatte, Französische Revolution, Globalisierung, Globalisierungskritik, Imperialismus, Imperium, innen/außen, Internationalisierung des Staates, Kapitalismusentstehung, Klassenkampf, Kolonialismus, Liberalismus, Macht, Markt, Merkantilismus, Modernisierung, multinationale Konzerne, Nation, national/nationalistisch, nationale Befreiung, nationale Bourgeoisie, nationale Minderheiten, Neoimperialismus, Neoliberalismus, Ökonomismus, Patriotismus, Produktionsverhältnisse, Produktionsweise, Rassismus, Raum, Rechte, Regulationstheorie, Selbstbestimmung, Sozialstaat, Sprache, Staat, Staatsableitungsdebatte, Staatsentstehung, Staatsform/Regierungsform, staatsmonopolistischer Kapitalismus, Stadt, transnationale Konzerne, transnationaler Kapitalismus, tributäre Produktionsweise, Ultraimperialismus, Volk, Weltsystem, Weltwirtschaft, Wohlfahrtsstaat

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n/nationalstaat.txt · Zuletzt geändert: 2024/02/04 19:36 von christian     Nach oben
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