Emigration
A: hiǧra. – E: emigration. – F: émigration. – R: ėmigracija. – S: emigración. – C: yimin 移民
Claudie Weill (CE, KG)
HKWM 3, 1997, Spalten 289-297
E (Auswanderung) ist ein freiwilliger oder erzwungener Schritt, der darin besteht, sein Land zu verlassen, um sich provisorisch oder dauerhaft in einem anderen niederzulassen. Trotz vielfacher Versuche einer Begriffsklärung bleibt der Begriff in der Terminologie der Soziologie und Geschichte interethnischer Beziehungen unbestimmt. Er steht in engem Zusammenhang mit der Entstehung und Konsolidierung des modernen Nationalstaats, da er erstmals im Kontext der Französischen Revolution benutzt wurde, und zwar zur Bezeichnung ihrer Gegner aus dem Lager des Ancien Régime, die jenseits der Grenzen Zuflucht gefunden hatten.
Der Begriff ist also zunächst im Bereich der Politik angesiedelt, wo die Bezeichnung ›Emigrant‹ (émigrant/émigré) zunehmend in Konkurrenz zu den Begriffen ›Flüchtling›, ›Exilierter‹ oder ›Verbannter‹ tritt. Darunter werden diejenigen verstanden, die in ihrem Land wegen ihrer Meinungen oder politischen Aktionen verfolgt werden – oder auch wegen ihrer Konfession oder ihrer Nationalität, unabhängig davon, ob diese freiwillig angenommen oder aufgezwungen wurde. Ohne aus dem Bereich der Politik zu verschwinden, fasst der Begriff E auch im sozioökonomischen Bereich Fuß, dem er implizit bereits seit Ende des 18. Jh. angehört: Die Entwicklung des Kapitalismus auf dem Lande drängt die überschüssige Arbeitskraft auf der Suche nach Subsistenzmitteln in die Städte (Landflucht): »Die rasche Ausdehnung der Industrie erforderte Hände; der Arbeitslohn stieg, und infolgedessen wanderten Scharen von Arbeitern aus den Ackerbaubezirken nach den Städten.« (Engels, Lage). Da diese überschüssige Arbeitskraft in den Ländern, wo die Industrialisierung in ihre erste Krise gerät, nicht absorbiert werden kann, zieht sie, sofern sie entsprechende Bewegungsfreiheit genießt, vorzugsweise in entwickeltere Länder mit überschüssiger Nachfrage, aber auch in solche, in denen eine Landbesiedlung noch möglich zu sein scheint, wie etwa die USA, Australien oder Südamerika. Seit Ende des 19. Jh. finden MigrantInnen jedoch vor allem in der Industrie Beschäftigungsmöglichkeiten. Aus der Sicht der Aufnahmeländer werden sie dann zu Einwanderern (immigrants/immigrés), die zur Bildung der Arbeiterklassen beitragen, wenngleich vor allem dadurch, dass sie die industrielle Reservearmee vergrößern.
➫ Antisemitismus, Arbeiterbewegung, Arbeiterklasse, Dritte Welt, Europa, Eurozentrismus, Französische Revolution, Freihandel, fremd/Fremdheit, Imperialismus, industrielle Reservearmee, internationale Arbeitsteilung, internationalistische Bewegung, Irische Frage, Klassenbewusstsein, Komintern, Kosmopolitismus (moderner), Marginalisierung, Menschenrechte, Migration, multinationale Arbeiterklasse, Nation, Nationalstaat, Nord-Süd-Konflikt, Pauper, Proletariat, Randgruppenstrategie, Rassismus, Sklaverei/Sklavenhaltergesellschaft