Melancholie
A: mālanḫōliyā. – E: melancholy. – F: mélancolie. – R: melancholija. – S: melancolía. – C: yōuyù 忧郁
Norbert Schneider (I.), Antje Géra (II.)
HKWM 9/I, 2018, Spalten 481-504
I. – 1. M, die »schwarze Galle«, von gr. μέλας (schwarz) und χολή (Galle), figurierte in der Vormoderne für das, was seit den psychologischen und psychiatrischen Theorien des 19. und 20. Jh. als »Depression« bezeichnet zu werden pflegt. Dennoch sind die semantischen Unterschiede zwischen beiden Begriffen, die affektive Störungen wie Niedergeschlagenheit, Antriebslosigkeit und schwindendes Selbstwertgefühl benennen, nicht unbeträchtlich. Der ältere Begriff ist nicht aus dem Vokabular verschwunden, und wenn er verwendet wird – v.a. im Typus des Melancholikers –, wird deutlich, dass er mehr meint als eine psychopathologische Erscheinung, die sich klassifizieren, psychotherapeutisch und womöglich medikamentös behandeln lässt. Vielmehr assoziiert man mit M eine das Individuum durchdringende, es gleichsam definierende Existenzform. Während im neueren Begriff der Depression diese partialisiert erscheint (ein depressiver Mensch hat daneben noch andere Persönlichkeitsmerkmale), und die therapierenden Wissenschaften diese pathologische Erscheinung über Genetik, Hormonforschung, ethologische Beschreibung analytisch flexibilisieren, assoziiert man mit M einen dauerhaften Modus der Existenz.
II. M steht in der Regel nicht im Zentrum der Reflexionen marxistischer Theorie, eher beschäftigte sie die Vertreter der Kritischen Theorie, für die Leo Löwenthals melancholischer Satz spricht: »Wir haben nicht die Praxis verlassen, sondern die Praxis hat uns verlassen.« (1980, 78f) Sie ist am Gegenpol zu den in der Arbeiterbewegung dominierenden heroischen Tugenden – Tatkraft, Entschlossenheit, Tapferkeit, Belastbarkeit und Zukunftsoptimismus – angesiedelt und gilt als nicht bewegungskonform. Weil emanzipatorische politische Praxis ein stets mit Rückschlägen und Scheitern konfrontiertes, fortwährendes Ringen um Hegemonie ist, scheint M mit ihren handlungshemmenden Dimensionen ein Ärgernis zu sein. Das ihr zugeschriebene emotionale Repertoire, das von momentanem Missvergnügen und Trauer über Furcht, Ohnmachts- und Unsicherheitsgefühle bis hin zu Hoffnungslosigkeit, Resignation und Verzweiflung reicht, unterliegt dem Verdacht der Passivität, Weltflucht und Innerlichkeit.
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