Kosmopolitismus, moderner
A: kozmobolītāniya ḥadīṯa. – E: modern cosmopolitism. – F: cosmopolitisme moderne. – R: sovrjemjennyj kosmopolitizm. – S: cosmopolitismo moderno. – C: jindai shijie zhuyi 近代世界主义
Gilbert Achcar
HKWM 7/II, 2010, Spalten 1892-1926
Der Ausdruck K als solcher findet sich in den späteren Schriften von Marx und Engels nur selten; meistens, allerdings nicht ausschließlich, wird er im Zusammenhang mit dem kapitalistischen K benutzt. Zum ersten Mal erscheint er im Abschnitt des Manifests, wo Marx eine Ode an die kapitalistische Transformation der Welt anstimmt, die durchaus wie eines jener Loblieder auf die »Globalisierung« klingt, die sich in den 1990er Jahren schlagartig ausbreiteten: »Die Bourgeoisie hat durch ihre Exploitation des Weltmarkts die Produktion und Konsumtion aller Länder kosmopolitisch gestaltet. […] An die Stelle der alten lokalen und nationalen Selbstgenügsamkeit und Abgeschlossenheit tritt ein allseitiger Verkehr, eine allseitige Abhängigkeit der Nationen voneinander. Und wie in der materiellen, so auch in der geistigen Produktion. Die geistigen Erzeugnisse der einzelnen Nationen werden Gemeingut. Die nationale Einseitigkeit und Beschränktheit wird mehr und mehr unmöglich, und aus den vielen nationalen und lokalen Literaturen bildet sich eine Weltliteratur.« (…)
Gerade die Eloquenz solcher Passagen legt Lesern des 20. und 21. Jh., die »Zivilisationsauftrag« als Tarnwort für imperialistische Ausbeutung und Kulturzerstörung kennen, den Eindruck nahe, dieses Zivilisationspathos erliege einer positivistischen Illusion. Das Manifest befasst sich aber mit der »sogenannten« von der Bourgeoisie getragenen Zivilisation und hält damit kritisch an der fortschrittlichen Rolle der weltumfassenden kapitalistischen Expansion fest: »Die Bourgeoisie reißt durch die rasche Verbesserung aller Produktionsinstrumente, durch die unendlich erleichterten Kommunikationen alle, auch die barbarischsten Nationen in die Zivilisation. […] Sie zwingt alle Nationen, die Produktionsweise der Bourgeoisie sich anzueignen, wenn sie nicht zugrunde gehn wollen; sie zwingt sie, die sogenannte Zivilisation bei sich selbst einzuführen« (…).
[…] Anders als noch bei Marx und Engels war der K später keineswegs per se Gegenstand marxistischer Debatten. Weder in den Dokumenten der II. und III. Internationale noch in den Schriften ihrer Schlüsselfiguren wird der Begriff genannt, und auch nicht in den Schriften unabhängiger oder abweichender Marxisten.
[…] Der Ultranationalismus im Europa der Zwischenkriegszeit sah im K das schlimmste Übel. Mit dem Ersten Weltkrieg und seiner Verschärfung nationalistischer Stimmungen hatte sich die ›patriotische‹ Kritik des 19. Jh. am liberalen K in den hasserfüllten Angriff auf ›unpatriotische‹ politische Bewegungen und Gruppen verwandelt, denen man die Zersetzung nationaler Bindungen und – zumal in den besiegten Ländern, bes. in Deutschland und Italien – die Schuld an der Niederlage gab. Angriffsziel wurden v.a. die ›Kosmopoliten‹ par excellence: Marxisten und Juden. Wider Erwarten wurde der K schließlich auch für den stalinistischen ML zum Anathema – mit den gleichen bevorzugten Zielscheiben, nur mit dem Unterschied, dass hier die ›Trotzkisten‹ die Marxisten ersetzten, da die Stalinisten den Alleinanspruch auf das marxsche Erbe erhoben.
[…] Mit dem Beginn einer neuen Epoche in der Geschichte des Weltkapitalismus, geprägt durch die »Globalisierung«, die in den 1980er Jahren mit dem Zusammenwachsen von »Informationszeitalter« und weltweiter neoliberaler Offensive begann und die internationale Zirkulation von Kapital und Gütern erheblich beschleunigte, und durch das Ende der globalen »Bipolarität« gewann der K im intellektuellen Diskurs seit Anfang der 1990er Jahre neue Bedeutung, stärker noch als in jeder früheren Epoche (vgl. Fine 2001). Am sichtbarsten – da Bestandteil der dominierenden Klassenideologie der Globalisierungs-Ära – manifestiert sich dieser Umbruch in einem K, den Peter Gowan, sein schärfster marxistischer Kritiker, den »neuen liberalen K« nennt: er stellt »eine Radikalisierung der anglo-amerikanischen Tradition […] eines liberalen Internationalismus« dar, der »auf der Vorstellung einer durch Freihandel und gemeinsame gesetzliche Normen friedvoll vereinten einzigen menschlichen Rasse beruht, angeführt von Staaten, die über bürgerliche Freiheitsrechte und repräsentative Institutionen verfügen« (2001).
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