Massenbewegung, Massenorganisation
A: ḥarakat al-ǧamāhīr, tanẓīm al-ǧamāhīr. – E: mass movement, mass organisation. – F: mouvement de masse, organisation de masse. – R: massovoe dviženie, massovaja organizacija. – S: movimiento de masas, organización de masas. – C: qúnzhòng yùndòng, qúnzhòng zǔzhī 群众运动,群众组织
Wolfram Adolphi, Lutz Brangsch
HKWM 9/I, 2018, Spalten 35-54
Im massenhaften Aufbegehren gegen die Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnisse und dem dabei erfahrenen Lernprozess liegt der Schlüssel dafür, dass – wie Marx es 1844 für unabdingbar hält – »die materielle Gewalt […] gestürzt« wird »durch materielle Gewalt«, wobei »auch die Theorie […] zur materiellen Gewalt [wird], sobald sie die Massen ergreift« (KHR, 1/385). Das Spannungsverhältnis zwischen Massenbewegung und Massenorganisation gehört zu den zentralen Problemen des sozialistischen Projekts und ist immer mit der Frage nach der Rolle der sozialdemokratischen bzw. kommunistischen Partei verbunden. Hier bündeln sich Aufbegehren, Selbstbewegung, wachsendes Bewusstsein und Handlungsfähigkeit auf dem einen Pol, Probleme der Führung und Leitung, der Organisierung, des Festhaltens des Flüssigen auf dem anderen. Die eine Seite ist bedroht von Chaos und Übernahme von rechts, die andere von Kontrollverlangen und Bürokratisierung. Die Geschichte des sozialistischen Projekts und der Theorisierung (bzw. Nicht-Theorisierung) der Dialektik von Bewegung und Organisierung im 19. und 20. Jh. gehört zum lehrreichen Erbe, das im Namen möglicher Zukunft sorgfältig studiert und aufgehoben werden sollte, auch unter der Berücksichtigung, dass die sozialistischen Quellen eher illusionär-unkritisch, die bürgerlichen v.a. verurteilend sein können.
Im 20. Jh. treten vier Hauptfragen hervor: erstens die des Verhältnisses von Selbstbewegung und geführter Bewegung der Massen als Opposition in der bürgerlichen Gesellschaft und dann als Träger der Revolution; zweitens die des Verhältnisses von Massen und Führung bei Versuchen der Gestaltung alternativer Gesellschaftsentwürfe; drittens die der Entstehung konterrevolutionärer, auch faschistischer Massenbewegungen in der bürgerlichen Gesellschaft; viertens die der Bewegung der Massen als Opposition im Sozialismus.
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