Alltagsverstand

A: istiʿāb al-yaumi. – E: common sense. - F: conscience commune. – S: sentido común. – R: obydennoe soznanie. – C: changshi, changzhi

Peter Jehle

HKWM 1, 1994, Spalten 162-167

Daß »die Kunst, mit Begriffen zu operieren, nicht eingeboren und auch nicht mit dem gewöhnlichen Alltagsbewußtsein gegeben ist, sondern wirkliches Denken erfordert, welches Denken ebenfalls eine lange erfahrungsmäßige Geschichte hat«, also auch entsprechend immer wieder studiert werden muß, bestimmt für Engels (MEW 20) eine bleibende Aufgabe von Philosophie nach dem Ende spekulativer Metaphysik. Den Zusammenhang von alltäglichem und wissenschaftlich geschultem Verstand hat erst Gramsci als konkrete Problematik in den Marxismus hereingeholt: »Religion, Alltagsverstand, Philosophie. Den Zusammenhang zwischen diesen drei intellektuellen Ordnungen auffinden« – so formuliert er das Programm einer Einführung ins Studium der Philosophie und der Kulturgeschichte (Gef).

Wo Gramsci auf den in die Antike zurückgehenden Terminus »senso comune« zurückgreift und die anderen romanischen Sprachen und das Englische ihm hierin problemlos folgen können, fehlt im Deutschen ein eindeutiges Äquivalent. Die deutschen Aufklärer schwankten zwischen »Gemeinsinn«, »Menschensinn«, »gemeiner« oder »gesunder Menschenverstand«, »gesunde Vernunft«, oder sie lassen den lateinischen Ausdruck sensus communis kurzerhand unübersetzt (vgl. Maydell/Wiehl 1974). Vor allem geht verloren, was in die deutschen Verhältnisse, wo es »keine Hauptstadt und kein allgemeines Interesse« gab (Herder 1776), wo »Consens« die Bedeutung einer obrigkeitlichen Bewilligung hatte, gar nicht übersetzbar war, nämlich der zivile Gehalt des Begriffs und sein »gegen die theoretische Spekulation der Philosophen gerichteter Ton« (Gadamer 1960). In Kants Entmischung von theoretischem und praktischem Erkenntnisvermögen dokumentiert sich diese Situation eines blockierten zivilen Lebens, in der die bürgerlichen Intellektuellen ihre subalterne Stellung als die Herren der Vernunft leben und so eine der Bedingungen ihrer Ohnmacht, die Trennung von den Einfachen, immer wieder neu herstellen. Der »gemeine Menschenverstand«, der die »kränkende Ehre« habe, »mit dem Namen des Gemeinsinnes (sensus communis) belegt zu werden« (KU), wird abgewertet, und der letztere bekommt als Wirkungsraum allein das Reservat des Schönen zugewiesen, in das sich die Einfachen kaum je verlieren. Im Grimmschen Wörterbuch (1897) heißt es zusammenfassend: »Gemein – ein altes hochwichtiges und edles Wort, nun aber übel heruntergekommen«.

Alltag, Alltäglichkeit, Bewußtsein, gesunder Menschenverstand, Hegemonie, Intellektuelle, Kritik, von außen

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