Mittelklasse, Mittelschicht
A: ṭabaqa wusṭā. – E: middle class. – F: classe moyenne. – R: srednij klass, srednij sloj. – S: clase media. – C: zhōngchǎn jiējí, zhōngchǎn jiēcéng 中产阶级, 中产阶层
Klaus Dörre
HKWM 9/II, 2024, Spalten 1131-1162
Mittelklasse (Mk), Mittelschicht (Msch) und Mittelstand (Mst) sind – oft synonym verwendet – zentrale Kategorien der Sozialstrukturanalyse zur Bezeichnung der gesellschaftlichen ›Mitte‹ hinsichtlich jeweils festzulegender Kriterien (wie Besitz, Einkommen, Bildung o.ä.). Wissenschaftlich wie umgangssprachlich werden alle drei Kategorien häufig auf das Kleinbürgertum bezogen. In Polarisierungsszenarien verliert die gesellschaftliche Mitte zahlenmäßig wie funktional an Bedeutung; Stabilitätsszenarien hingegen setzen auf eine majoritäre gesellschaftliche Mitte, die Normalitätsstandards für Arbeit, Leben, Politik, Kultur und Moral definieren kann. Die Dynamik der Mk/Msch entscheidet über die Integrationsfähigkeit moderner Gesellschaften. In der (west-)deutschen Soziologie gipfelte die Debatte um Mk/Msch nach 1945 in der These einer zur Mehrheit gewordenen »nivellierten, kleinbürgerlich-mittelständisch sich verhaltenden Gesellschaftsschicht« (Schelsky 1953, 222), wegen deren Selbstbewusstsein sich »ein Verständnis unserer Gesellschaften als Klassengesellschaft nicht mehr aufrecht« erhalten lasse (226). Auffällig an solchen Diagnosen ist die Unschärfe der Mk-Kategorie; das Wort dient, ähnlich wie Msch oder Mst, oft geradezu als »Posten jener Einheiten, mit denen man nichts anzufangen weiß« (Geiger 1930/1962, 235).
Aus marxscher Perspektive ist der Begriff der Mk dem der Msch vorzuziehen. Schicht ist ein deskriptiver Ordnungsbegriff, Klasse »dagegen eine analytische Kategorie, die nur im Zusammenhang mit einer Klassentheorie sinnvoll sein kann«; Klassen allgemein und auch die Mk sind »aus bestimmten Strukturbedingungen hervorgehende Interessengruppierungen, die als solche in soziale Konflikte eingreifen und zum Wandel sozialer Strukturen beitragen« (Dahrendorf 1957, VIIIf). Innerhalb der Mk lassen sich, wie in anderen Klassen auch, Schichten und »Klassenfraktionen« unterscheiden (Poulantzas 1978/2002, 158). Mit der Entwicklung des Kapitalismus und den Klassenkämpfen ändern sich die soziale Zusammensetzung der Mk, ihre Stellung im Reproduktionsprozess, ihre Lebensstile und politischen Orientierungen.
Zur begrifflichen Diffusität trägt bei, dass der Ausdruck Mk abhängig von nationalen Traditionen unterschiedliche Konnotationen besitzt. Seine Bedeutung »wechselt von Land zu Land« (Gramsci, Gef, H. 26, §8, 2209). In England zählte das (Klein-)Bürgertum wohl nie zum »Volk«; es waren sogar Bündnisse von Teilen des Adels mit subaltern-popularen Klassenfraktionen möglich, die sich »gegen das industrielle Bürgertum« richteten (ebd.). Als Folge »erlangte [der Adel] immer mehr einen besonderen Charakter als ›bürgerliche Aristokratie‹« (ebd.), deren politischer, v.a. aber moralisch-kultureller Einfluss bis tief in die Arbeiterschaft reicht. In Italien hingegen steht Mk negativ für »Nicht-Volk, also ›weder Arbeiter noch Bauern‹; es bedeutet positiv die intellektuellen Schichten, die Freiberufler, die Angestellten« (ebd.). In Frankreich wiederum wird Mk »entweder im englischen Sinn oder im italienischen Sinn von Klein- und Mittelbürgertum gebraucht« (ebd.).
Aufgrund ihrer Stellung zwischen herrschender Klasse und Arbeiter- bzw. Unterklasse ist die Mk sowohl theoretisch als auch empirisch schwer zu fassen. Wer ihr zuzurechnen ist, welche gesellschaftlichen Funktionen sie erfüllt und wo sie politisch zu verorten ist, ist innerhalb der marxistischen Diskussion umstritten. Tatsächlich folgt auch der historische Prozess der Herausbildung und Veränderung der Mk keiner linearen Logik. Während tradierte Mk-Fraktionen verschwinden, entstehen mit der Entwicklung der Produktivkräfte und der Veränderung der kapitalistischen Produktionsweise immer wieder neue Mk-Fraktionen.
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