Lachen

A: aḍ-ḍaḥik. – E: laughter. – F: rire. - R: smech. – S: risa. – C: xiao 笑

Peter Jehle

HKWM 8/I, 2012, Spalten 595-616

Der lachende Marx ist in seinen Schriften wie in den Erinnerungen seiner Familie und Freunde präsent. Dass ihm »niemals ein Lächeln« auf die Lippen gekommen sei, diese »Legende« gehöre zum »komischsten« für alle, die diesen »heitersten und lebensfrohesten Menschen« gekannt haben, »dessen herzliches L ansteckend und unwiderstehlich war«, schreibt seine Tochter Eleanor (Erinnerungen). Er verbinde »mit dem tiefsten philosophischen Ernst den schneidendsten Witz«, sagt schon Moses Hess über den 23-Jährigen (1841, Erinnerungen). Es genügt, den Artikel des Redakteurs der NRhZ über die Zensur zu lesen. Gegen die Behauptung des Gesetzes, eine »ernsthafte und bescheidene Untersuchung der Wahrheit« solle nicht behindert werden, wendet er ein, dass solche Qualifizierung der Wahrheit ein »Präservativmittel« sei (…). »Ich darf das Gesicht meines Geistes zeigen, aber ich muss es vorher in vorgeschriebene Falten legen!« (…) Wenn die Ernsthaftigkeit den »sachlichen Ernst« bedeuten soll, hebe sich »die ganze Vorschrift« auf. »Denn das Lächerliche behandle ich ernsthaft, wenn ich es lächerlich behandle […], die allzu große Ernsthaftigkeit ist das Allerlächerlichste« (…). »Der Stil ist hier«, bemerkt Wilhelm Liebknecht, »was er […] ursprünglich in der Hand der Römer war, ein spitzer Stahlstift […], ein Dolch, gebraucht zum sicheren Stich ins Herz« (Erinnerungen; 1896).

Liebknecht lernte Marx bei einem Sommerfest des Kommunistischen Arbeiterbildungsvereins in London kennen, nicht ohne anderntags – Engels war auch dabei – einem »Examen« unterworfen zu werden, um den »Verdacht kleinbürgerlicher ›Demokratie‹ und ›süddeutschen Gefühlsdusels‹« auszuräumen. Die Lage entspannte sich, und Prüfungskomitee und Kandidat »sprachen und lachten und tranken bis spät am andern Morgen« (Erinnerungen; 1896). Allerdings lässt Liebknecht an der Strenge des Lehrers Marx keinen Zweifel; das »sanftlebige Fleisch der Beschaulichkeit peitschte er grausam mit der Rute seines Spotts« (…). In Liebknechts Erinnerungen ist das L mit dem Elend des londoner Emigrantendaseins verschwistert. »Gegen das grinsende Elend gab es nur ein einziges Heilmittel: Lachen! […] Es ist nie so viel gelacht worden, als zu der Zeit, wo es uns am Schlechtesten ging.« (1896) Er erzählt von einer »Bierreise« durch eine »gewaltige Anzahl von Kneipen«, die er mit Marx und Edgar Bauer unternahm (…). Auf dem Heimweg, nachdem eine Auseinandersetzung mit ein paar nicht weniger angeheiterten »biederen Odd Fellows« (…) glücklich überstanden war, wurden »vier oder fünf Laternen« mit Pflastersteinen traktiert. Die Polizei wurde aufmerksam. »Die Sache war kritisch. Zum Glück überschauten wir die Situation […]. Wir stürmten voran, drei oder vier Policemen in einiger Entfernung hinter uns. Marx entwickelte eine Behendigkeit, die ich ihm nie zugetraut hätte.« (…) Die Verfolger können schließlich abgeschüttelt werden. »Hier in London, wo man für deutsche Studentenstreiche gar kein Verständnis hat, wäre die Sache […] weit ernster genommen worden als in Marburg, Berlin oder Bonn; und ich muss gestehen, als ich andern Morgens – nein, am Mittag desselben Tages – aufwachte, war ich sehr froh, in meiner Stube zu sein, statt in einer Londoner Polizeizelle zusammen mit dem Mitglied der ›Heiligen Familie‹ Edgar Bauer, und dem Zukunftsschöpfer des ›Kapital‹, Karl Marx. Aber gelacht haben wir doch, so oft wir an jenes nächtliche Abenteuer dachten.« (…; vgl. Wheen 1999)

Dem über Jahre von einer Armada von Gläubigern belagerten Karl Marx stand in extremis wenigstens sein »Zynismus« zu Gebote (an Engels). Bei einer Reise von Jenny Marx nach Paris, einem »letzten coup de désespoir« (…), um Geld aufzutreiben, reihte sich ein »tragikomischer« Unglücksfall an den nächsten (…). Marx’ Lust zu lachen, »bis ihm die Tränen die Wangen herunterrannen«, wie eine Freundin Eleanors sich erinnert (Comyn 1970), ist nicht zuletzt die katastrophenerprobte, die im Strohhalm die rettende Planke ergreift. Er liebte, neben Shakespeare, Cervantes. Der Höhepunkt gelegentlicher Sonntagsausflüge nach Hampstead Heath, zu Fuß mit einem Picknick-Korb, war ein Ritt auf dem Esel, bei dem Marx durch eine »mehr als primitive Reitkunst und durch den Fanatismus, mit welchem er seine Virtuosität in dieser Kunst beteuerte«, die Gesellschaft zum L brachte (Liebknecht, Erinnerungen; 1896).

Das »Plattste und Abgeschmackteste« wie »das Wichtigste und Tiefste« können zum Anlass des L werden (Hegel, Ästh, W 15). Zwischen dem von Michail Bachtin als »Waffe in der Hand des Volkes« bestimmten L (1965/1995; Übers. n.d. frz. Ausg. korr.) und Adorno, dem das »schallende Gelächter« im SA-Ton in den Ohren klingt, das »zu jeder Zeit die Zivilisation denunziert« (DA), erstreckt sich das Feld, auf dem das L seine zweideutige Produktivkraft entfaltet. Es steht im Dienst der Konfliktentschärfung wie -verschärfung. Wie bei einer gefährlichen Krankheit besteht Ansteckungsgefahr. Man lacht, um den Tod zu vertreiben, dem man mit knapper Not entronnen ist.

In herrschaftskritischer Perspektive interessiert die subversive Gewalt des L, seine Erkenntnis anbahnende und die Fesseln der zu zweiter Natur gewordenen Konvention sprengende Kraft. »Der zaubermächtigste Magnetiseur der Erde ist mit seinem Latein zu Ende, sobald sein Patient ihm ins Gesicht lacht.« (Engels, DN) Der Spott kann das neu Heraufkommende treffen, dafür sind »Lobredner der alten Zeit« gesucht (Bloch, PH, GA 5). Doch kann er auch, wie bei Marx, als »leidenschaftlicher Sarkasmus« (Gramsci, Gef, H. 1, §29) auftreten, der den Gehalt einer Sache aus der zur Fessel gewordenen Form rettet. Als Korrosivkraft wirkt das L im Ringen mit dem Gegner. Es schärft den analytischen Blick, der die falschen Zusammenhänge ›auflöst‹ und so zur Chance verhilft, es neu und besser zu machen. Es könne fürs Denken keinen »besseren Start« geben als das L, schreibt Benjamin im Blick auf Brechts Theater (GS II.2).

Die Narren haben die Welt nicht verändert, doch hat sich, was im Namen der ›Vernunft‹ aufgetreten ist, nicht selten als die eigentliche Narrheit herausgestellt. Das L bringt den von langem Stillstand tauben Gliedern ebenso wie dem Denken die nötige Lockerung. Unterm Bleimantel des Gefängnisses fürchtete Gramsci die Fähigkeit zu verlieren, über sich selbst lachen zu können (Briefe 1). Wo das Subjekt sich zum Objekt seines Witzes macht, bezieht es sich selbst in die Bewegung ein, die der Feind des Gegebenen, der erstarrten Verhältnisse ist.

Alltag, Anerkennung, Angst/Furcht, Arbeiterklasse, Arbeiterkultur, Begriff, Brecht-Linie, Bürgerkrieg, Denken, Dialektik, Dummheit, Emanzipation, Faschismus, Faustus-Debatte, Form, Fourierismus, Frauenbewegung, Freude, Gefühle/Emotionen, Gegenkultur, Gemeinwesen, Genuss, Geschlecht, Glauben, Glück, Gott, Hedonismus, Held, Herrschaft, herrschaftsfreie Gesellschaft, Hexe, Himmel/Hölle, Hollywood, Holokaust, Ideologiekritik, Ideologietheorie, Inquisition, Intellektuelle, Ironie, Karikatur, Karneval, Katastrophe, Katharsis, Katholizismus, Kirche, Kohärenz, Komisches, Kompetenz/Inkompetenz, Komplementarität, Konsens, Kontrolle, Körper, Kulinarisches, Kultur, kultureller Materialismus, Kulturindustrie, Kulturstudien (Cultural Studies), Kunst, Legalität/Legitimität, Märchen, Oben/Unten, Opfer/Täter, Parodie, Patriarchat, Plebejisches, politische Ästhetik, Psychoanalyse, Religion, Satire, Schönheit, Selbstzweck, Sexismus, Sozialismus, Spiel, Stalinismus, Subalternität, subversiv, Theater, Tod, Tragisches, Verdinglichung, Verfremdung, verkehrte Welt, Verzweiflung, Wahrheit, Widerstand, Wirklichkeit, Witz, Würde, Zivilisation, Zwang, Zweifel, Zynismus

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l/lachen.txt · Zuletzt geändert: 2015/03/27 00:27 von christian     Nach oben
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