Lebensweise, Lebensbedingungen
A: ṭarīqa al-ḥayāt / ẓurūf al-ma'īša. - E: mode / conditions of life. - F: mode/conditions de vie. – R: obraz žizni / uslovijažizni. - S: modo / condiciones de vida. - C: shenghuofangshi / shenghuotiaojian 生活方式;生活条件
Fabio Frosini (PJ) (I.), Peter Jehle (II.), Christian Wille (III.), Annette Schnabel (IV.)
HKWM 8/I, 2012, Spalten 771-791
Der Wert der Arbeitskraft bestimmt sich nach Marx gleich dem jeder anderen Ware: »durch die zur Produktion, also auch Reproduktion, dieses spezifischen Artikels notwendige Arbeitszeit« (K I). Doch ist die Summe der Lebensmittel, die das arbeitende Individuum in seinem »normalen Lebenszustand« erhalten muss, der »Umfang der sog. notwendigen Bedürfnisse«, ein »historisches Produkt und hängt daher großenteils von der Kulturstufe eines Landes« sowie »davon ab, unter welchen Bedingungen, und daher mit welchen Gewohnheiten und Lebensansprüchen die Klasse der freien Arbeiter sich gebildet hat« (…). Was unabhängig vom eigenen Zutun existiert, die Lebensbedingungen (Lb), zeigt sich bei Marx sogleich als Gegenstand der Bearbeitung und Aneignung: In Wirklichkeit existieren sie als »Gewohnheiten« und »Ansprüche«, mithin als Lebensweise (L), subjektiv. »Im Gegensatz zu den andren Waren enthält also die Wertbestimmung der Arbeitskraft ein historisches und moralisches Element« (…) – »moralisch« im Sinne der lat. »mores«, der »Sitten« bzw. »Gewohnheiten«, die sich im wiederholten praktischen Vollzug bilden und dann, im Kompetenzbereich einer ideologischen Macht zur ›Norm‹ verselbständigt, als Regel sozialen Handelns vorgeschrieben werden können.
Gramsci arbeitet den Zusammenhang von Produktions- und Lebensweise am Beispiel der mit den Begriffen »Fordismus« und »Amerikanismus« sich verbindenden Umwälzung der industriellen Produktionsweise aus, in der Standardisierung, Rationalisierung und Intensivierung des Arbeits- und Ausbeutungsprozesses ineinandergreifen. Die »Anpassung an die neuen Produktions- und Arbeitsmethoden« (Gef,), die »untrennbar mit einer bestimmten Weise zusammenhängen, zu leben, zu denken und das Leben zu empfinden« (…), verlangt eine »kluge« Verbindung von »Zwang« und »Konsens« (…), die durch höhere Löhne und reduzierte Arbeitszeit, also die »Möglichkeit eines besseren Lebensstandards« (…) erreicht werden soll. Die dennoch gegebene Instabilität der Ford-Belegschaft führt Gramsci auf den besonderen »Qualifikationstypus« zurück (…), der dem Arbeiter zumutet, sich zum aktiven Subjekt eines »psycho-physischen Transformationsprozesses« zu machen (…), der in einem »neuen«, d.h. den neuen Bedingungen angepassten »Menschentyp« resultiert (…). Die ›rationale‹ Regulierung der Sexualität, die den »Überschwang der Leidenschaft« (…) zugunsten einer dem Produktionsprozess angemessenen Konzentration der Energien eindämmt, und nicht zuletzt die »zivil-ethische Frage […] der Herausbildung einer neuen weiblichen Persönlichkeit« (…) sind integrale Bestandteile dieses Prozesses.
Wenn Marx die »Proletarier« als die Adressaten des Manifests ansprechen konnte, so nicht deshalb, weil ein anonymer Geschichtsprozess sie mit ›eherner Notwendigkeit‹ hervorgebracht hätte, sondern weil sie sich selbst zu dem machten, was sie ›sind‹: eine von anderen Gruppen der Gesellschaft unterschiedene Klasse, deren Bildungsprozess Edward P. Thompson als einen »way of struggle, against class rule above, and between competing moralities within the working class« (1959), Michael Vester als einen »langen kollektiven Lernprozess« (1972, 18) rekonstruiert hat. Im Anschluss an die DI, in der die Revolutionierung der Gesellschaft mit der Entwicklung einer »neuen L« durch die »kommunistischen Proletarier« zusammengedacht wird (…), macht Lothar Kühne für die sozialistische Politik die »Entfaltung individuellen Lebens als persönlichen« zum Gradmesser der »Verwirklichung der kommunistischen Ziele« (1978/1985).
Die Besonderheiten der kapitalistischen Produktionsweise lassen sich in ihren praktischen Umsetzungen und Auswirkungen auf die L nicht ohne einen feministischen Standpunkt erfassen. Bei Marx und Engels finden sich schon wichtige Hinweise, doch erst die Frauenbewegung eröffnete einen systematischen Blick auf die Geschlechterordnung – zunächst mit Fokus auf die Reproduktionsarbeit und später auf die Subordinationsverhältnisse des Patriarchats und deren Reproduktion durch die interaktive Darstellung und Zuschreibung von Geschlecht. Der solchermaßen geschärfte Blick lässt die Unterschiede in den L.n von Männern und Frauen erfassen, die sich durch die je unterschiedliche Einbindung in die öffentliche Sphäre (der Produktionsarbeit) und die private (der Reproduktionsarbeit) und deren gesellschaftliche Anordnung und Anerkennung – und dies noch durch die Klassenlage gebrochen – ergeben.
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