Klassenbewusstsein

A: wa‛i ṭabaqī. – E: class consciousness. – F: conscience de classe. – R: klassovoe soznanie. – S: conciencia de clase. – C: jieji yizhi 阶级意识

Klaus Dörre (I.), Rüdiger Dannemann (II.)

HKWM 7/I, 2008, Spalten 787-802

I. Der Begriff K steht am Schnittpunkt von Klassenstruktur und revolutionärem Klassenhandeln und nimmt daher im marxschen Theoriegebäude eine zentrale Stellung ein. Die Bourgeoisie kann herrschen, ohne ein besonderes K entwickeln zu müssen. Wo sie sich formiert und in eigenen Interessenorganisationen zusammenschließt, geschieht dies überwiegend in Reaktion auf die Organisationsmacht der Arbeiter. Insofern ist die Frage nach der Entstehung von K bei Marx eng mit der Entwicklung von Arbeiterklasse und Arbeiterbewegung verbunden und gehört damit systematisch zum Klassenbildungsprozess des Proletariats. In einem frühen Stadium ist die Masse der Lohnarbeiter zunächst nur eine »Klasse gegenüber dem Kapital«, bestimmt durch den Nichtbesitz an Produktionsmitteln, den Warencharakter ihrer Arbeitskraft, die Produktion von Mehrwert sowie die Fremdbestimmtheit ihrer Arbeitstätigkeit. Eine »Klasse für sich selbst« (Elend) kann das Proletariat erst im Zuge einer aktiv-bewussten Überwindung von in der Klassenlage selbst wurzelnden Partikularinteressen werden. Wie dieser Bewusstwerdungsprozess vonstatten geht und auf welche Weise er theoretisch zu fassen ist, bleibt bei Marx ebenso unausgearbeitet wie der Klassenbegriff selbst. Dafür gibt es freilich auch einen systematischen, theorieimmanenten Grund. Weder Klassenstruktur noch K des Proletariats können abstrakt oder isoliert definiert werden, sondern nur »über die Beziehung zu anderen Klassen«, im »Medium der Zeit«, über »Aktion und Reaktion, Veränderung und Kampf« (Thompson 1963/1987). Infolgedessen hat sich die marxsche Konzeption des K nicht nur theorieimmanent, sondern auch unterm Eindruck historischer Entwicklungen und sozialer Kämpfe immer wieder verändert. Trotz der von Althusser u.a. als »epistemologischer Einschnitt« (vgl. Selbstkritik) gedeuteten theorieimmanenten Verschiebungen lassen sich einige grundlegende Charakteristika der marxschen Konzeption des K benennen.

II. Das Konzept eines »objektiven«, »zugerechneten K« (GuK), für das Georg Lukács’ Ansatz berühmt geworden ist, steht bereits im Zentrum seines 1920 in der Zeitschrift Kommunismus veröffentlichten Aufsatzes »Klassenbewusstsein«, der Grundzüge der späteren Ausführungen in GuK enthält: demnach meint K »niemals ein psychologisches oder massenpsychologisches Prinzip […], das also, was die Angehörigen einer bestimmten Klasse in einer bestimmten geschichtlichen Lage tatsächlich gedacht, empfunden usw. haben. K bedeutet im Gegenteil die Gedanken, Empfindungen usw., welche die Angehörigen einer Klasse haben würden, wenn sie ihre Klassenlage, die aus ihr folgenden Interessen, sowohl in Bezug auf das unmittelbare Handeln wie auf den Aufbau der ganzen Gesellschaft, vollkommen zu erfassen fähig wären […]. Es ist die rationell angemessene Reaktion, die bestimmten Lagen im Produktionsprozess zugerechnet wird.« (Politische Aufsätze I). Dabei dränge im K des Proletariats die »objektive« Lage der Individuen im System der gesellschaftlichen Produktion zur »subjektiven« Selbstbeschreibung; die »rein abstrakte Negativität im Dasein des Arbeiters« sei nicht nur die »objektiv typischste Erscheinungsform der Verdinglichung«, sondern werde auch »subjektiv der Punkt, wo diese Struktur ins Bewusstsein gehoben und auf diese Weise praktisch durchbrochen werden kann« (GuK). Seinen eigentlichen Ausdruck finde das K im Klassenkampf. Erst in der Revolution werde es von einem dumpfen Instinkt des ›an sich‹ zu einem wirklichen Bewusstsein des ›für sich‹. Gingen noch Marx und Engels eher von einer unvermeidlichen Empörung aus, muss nach Lukács, der hier Lenin folgt, das K durch die revolutionäre Partei in die Arbeiterklasse hineingetragen werden.

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