Formationstheorie
A: naẓarīyat at-taškīlāt. – E: formation theory. – F: théorie des formations. – R: teorija formacii. – S: teoría de las formaciones. – C: shehui xingtai lilun
Wolfgang Küttler
HKWM 4, 1999, Spalten 669-680
Als Ft wurde in den Ländern des sowjetisch dominierten Staatssozialismus, besonders in der SU selbst und in der DDR, die durch Parteibeschlüsse verbindlich gemachte Version der Auffassung von der progressiven Entwicklung ökonomischer Gesellschaftsformationen bezeichnet. Die Ft stellte den Versuch einer axiomatischen Systematisierung der verstreuten Texte der ›Klassiker‹ über Wesen und Abfolge ökonomischer Gesellschaftsformationen einschließlich der strategischen gesellschaftspolitischen Orientierungen der KPdSU und der anderen herrschenden KPen dar. Sie hatte demzufolge eine spannungsreiche Doppelfunktion als geschichtsideologisches Kernstück der »wissenschaftlichen Weltanschauung« des ML und als gesellschaftstheoretische Grundlage der Gesellschaftswissenschaften. Eine solche Grundlage war unter den nach dem Zweiten Weltkrieg entstandenen Bedingungen langfristiger Koexistenz mit dem Westen und der inneren Gestaltung der zum internationalen System ausgeweiteten sowjetsozialistischen Gesellschaftsordnung notwendig geworden. Im engeren Sinne entstand die Ft im Ergebnis der Grundlagendebatten nach Stalins Tod und vor allem nach dem 20. Parteitag der KPdSU. Auf Lenins Interpretation und Modifikation der marxschen Formations-, Klassen- und Revolutionstheorie für Russland und die Epoche des Imperialismus zurückgehend und in einem zwiespältigen Verhältnis partieller Kritik und ideologischer Kontinuität zur stalinschen Dogmatisierung des »Leninismus« entwickelte sich die Ft als kleinster gemeinsamer Nenner und zugleich zentraler Schauplatz ideologischer Auseinandersetzung zwischen Systemkonservativen und Reformern in Politik, Philosophie und Einzelwissenschaften, v.a. in Geschichtswissenschaft und Soziologie. Die Ft fungierte als Leitvorstellung und allgemeine Theorie über Struktur (System) und Entwicklung (Stufenfolge) der menschlichen Gesellschaft in weltgeschichtlicher Dimension und mit besonderer Orientierung auf das 20. Jh. und den Sozialismus sowjetischen Musters.
In diesem Kontext entstanden einerseits unterschiedliche Versionen der Verbindung von dogmatischen Grundauffassungen über Sozialismus/Kommunismus und Kapitalismus/Imperialismus in der »Übergangsepoche« bzw. im »weltrevolutionären Prozess« der Gegenwart in Parteitagsbeschlüssen und Parteiprogrammen, Nachschlagewerken und Lehrbüchern (Eichhorn 1979). Andererseits bot die Ft auch den Bezugsrahmen für einzelwissenschaftliche Differenzierung und Flexibilisierung der Theorie und Methode, die einen inneren Expertendiskurs förderten und die Wiederaufnahme der internationalen wissenschaftlichen Kommunikation auch auf theoretisch-methodologischem Gebiet ermöglichten (Küttler 1999). In letzterer Hinsicht wurden die innerwissenschaftlichen Resultate der »F-Analyse« auch im Westen als Faktor gesellschaftstheoretischer Entwicklungen im Systemwettbewerb wahrgenommen, zumal deren Ausstrahlung v.a. auf die ›Entwicklungsländer‹ nicht zu unterschätzen war.
Mit Krise und Zusammenbruch des sowjetisch-osteuropäischen Sozialismus verlor die Ft als ideologischer Kanon und als gesellschaftstheoretisches System ihre Akzeptanz auch bei den meisten Marxisten (Gurjewitsch 1991) – im westlichen Marxismus war sie ohnehin nie dominant (Anderson 1978), obgleich es auch hier zu differenzierender Rezeption kam (vgl. etwa Gesellschaftsformationen, 1978). In ihren differenzierten philosophischen und fachwissenschaftlichen Versionen ebenso wie in vielen Elementen des »Systemdenkens« der Nachkriegsepoche enthält sie aber Problemstellungen und Lösungsansätze, die für kritisch an Marx orientiertes Geschichts- und Gesellschaftsdenken relevant bleiben (Haug 1993, Küttler 1995)
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