demokratischer Sozialismus
A: al-ishtirākīya al-dīmuqrāṭīya. – E: democratic socialism. – F: socialisme démocratique. – R: demokratičeskij socializm. – S: socialismo democrático. – C: minzhu shehui zhuyi
Robert Lederer
HKWM 2, 1995, Spalten 555-569
DS ist der politisch-strategische Begriff des sozialistischen/sozialdemokratischen Teils der Arbeiterbewegung, der nach 1917 gegen den leninistisch geprägten Begriff der »Diktatur des Proletariats« für den unaufhebbaren Zusammenhang von Sozialismus und Demokratie votierte. »Diktatur des Proletariats« oder »dS«, das war 1917-1989 die Trennlinie zwischen dem kommunistischen und sozialistischen Teil der gespaltenen Arbeiterbewegung (vgl. Grebing/Meyer 1992). Seit jedoch ehemals kommunistische Parteien sich als demokratisch-sozialistische neugegründet haben, hat der Begriff seine Bedeutung eines Schibboleth eingebüßt.
In den Anfängen der sozialistischen Bewegung als Teil der demokratischen Bewegung war die Verklammerung von Demokratie und Sozialismus als Zielvorstellung noch selbstverständlich. Bereits 1845 spricht Karl Grün vom »dS« (zit.n. Conze 1972) und 1849 schreibt Proudhon in seinen Bekenntnissen eines Revolutionärs: »Louis Blanc vertritt den Regierungssozialismus, die Revolution von der Macht aus; ich vertrete den dS, die Revolution durch das Volk« (zit.n. Sotelo 1987). Im selben Werk spricht er von den »Demokraten-Sozialisten« als der Partei der Zukunft (…).
Dieser ursprüngliche Begriff des dS, wie ihn Proudhon definierte, ist in der Geschichte hinter den Etatismus sowohl der II. wie der III. Internationale zurückgetreten. Nachdem der Staatssozialismus zusammengebrochen ist und die etatistische Transformationsstrategie der sozialistischen Bewegung nicht zum Ziele führte, werden libertäre Traditionen, wie sie im Anarchismus und der Theorie der Rätedemokratie ihren Platz gefunden haben, in Zukunft bei der Neuformulierung eines dS eine wichtige Rolle zu spielen haben.
Die Äußerungen von Karl Marx und Friedrich Engels zur Demokratie bergen keine systematische Theorie; sie reagierten »auf veränderte politische Umstände jeweils ad hoc« (Harrington 1975). Vor 1848 reihten sie sich in die demokratische Bewegung ein; so schrieb Engels 1847: »Solange die Demokratie noch nicht erkämpft ist, solange kämpfen Kommunisten und Demokraten also zusammen.« (…) – In den Jahren nach der gescheiterten Revolution begann »die Scheidung der jüngeren bürgerlich-liberalen Demokratie von der älteren Demokratie des armen Volkes« (Rosenberg 1938). Da die Klassenkoalition zwischen Arbeitern, Bauern und Kleinbürgern in Deutschland wie in Frankreich zerbrach (…), schieden sich die bürgerlichen Demokraten von der Arbeiterbewegung. Der Begriff ›Demokratie‹ war »ins Lager des besitzenden Bürgertums selbst gewandert« (…), des bürgerlichen Linksliberalismus. In den Klassenkämpfen in Frankreich schreibt Marx nun über die Republik in bezug auf die Lage des Bauern; »Die konstitutionelle Republik, das ist die Diktatur seiner vereinigten Exploiteurs; die sozialdemokratische, die rote Republik, das ist die Diktatur seiner Verbündeten.« (…) – Bei dieser Formulierung ist zu beachten, daß der Diktaturbegriff auf beide Seiten angewandt wird. Michael Harrington (1975) zitiert dazu eine Schrift von S. Hook aus dem Jahre 1933, wo es heißt; »Wo auch immer wir (bei Marx) einen Staat finden, dort finden wir eine Diktatur«, und fährt fort: »Selbst die freiheitlichste bürgerliche Demokratie ist deshalb in dem Sinne eine Diktatur, daß ökonomischer Reichtum und Macht der Reichen zur theoretischen politischen Gleichheit aller Bürger im Widerspruch stehen.« (…)
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