Komplementarität

A: tatmīmiyah. – E: complementarity. – F: complémentarité. – R: komplementarnost’. – S: complementaridad. – C: hubuxing 互补性

Wolfgang Fritz Haug (I.), Kâmil Uludağ (II.)

HKWM 7/II, 2010, Spalten 1398-1423

I. Der Ausdruck leitet sich ab von lat. complementum (Erfüllung, Ergänzung) – vgl. das im Engl. als to complete und im Dt. als komplettieren erhaltene lat. complere sowie plenus (voll). K bezeichnet ein Ergänzungsverhältnis – und zwar im starken Sinn eines von Gegensätzen. »Vorausgesetzt ist die Unterscheidung zwischen einem Ganzen und seinen Teilen. Wenn die Teile einander wechselseitig ausschließen und gleichwohl notwendig sind für die Bildung des Ganzen, sind sie komplementär.« (Meyer-Abich 2004) In diesem Sinne ist für Hegel »das complementum der Gesetze – die moralische Gesinnung« (…). Das Komplement einer Sache ist das unmittelbar in ihr nicht nur Abwesende, sondern von ihr Ausgeschlossene, das aber nach Goethes Einsicht zur »abgeleiteten, entwickelten und dargestellten Totalität« führt (Zur Farbenlehre). Noch der von einem Sprachforscher aufgespürte Gegensinn der Urworte (Abel 1884), der Sigmund Freud so fasziniert hat (…), weil er sich zu seinen Beobachtungen fügte, dass das ›Nein‹ fürs Unbewusste nicht zu existieren scheint und dementsprechend »ein Ding im Traum sein Gegenteil bedeuten« kann (…), deutet auf eine rätselhafte K.

Indem K Gegensätze verbindet, kommt sie der Dialektik nahe. Doch wo diese »jede gewordene Form im Flusse ihrer Bewegung« (Marx) und die gegeneinander verfestigten Gegensätze in ihren einander qualifizierenden Wechselwirkungen und ihren Übergängen auffasst, begnügt sich das K-Denken mit ihrer Koexistenz. Insofern hat es Bildcharakter und lässt sich mit dem Ausdruck von Benjamin (…) als »Dialektik im Stillstand« beschreiben.

Es ist das von Niels Bohr, der über Psychologie und Philosophie zur Physik gekommen ist, »aus der philosophischen Idee eines ganzheitlichen Zusammenhangs von Wissen und Handlung abgeleitete« (Meyer-Abich 2004) und 1927 in die Quantenmechanik eingeführte K-Prinzip, das über die Disziplingrenzen hinauswirkte und dem Term K zu Aktualität verhalf. Freilich haftet dem bohrschen K-Begriff der Charakter einer spekulativen Improvisation an, die dem klassischen Verständnis als Ungereimtheit erscheint. In der Strömung, die Max Tegmark die »Shut-up-and-Calculate-Interpretation« der Quantenmechanik genannt hat (zit.n. Rauner in Falkenburg/Stöckler 2000), geht sie quasi mit dem »Denkverbot« (Stöckler) einher, nach dem Wesen der einander ausschließenden Komplemente und dem ihrer K-Beziehung zu fragen. Dagegen bildet bei Marx und der marxistisch geschärften Kritischen Theorie, v.a. jedoch in der Ideologietheorie, wo es um die Stabilisierung gesellschaftlicher Antagonismen geht, die Analyse von K-Beziehungen ein zentrales Element für die Analyse der Dialektik von Herrschaft.

II. Mit dem Konzept der K weist Bohr […] darauf hin, dass das Objekt nicht ohne die Versuchsanordnungen zu haben ist und darum widersprüchliche Beobachtungen – resultierend aus der nicht vollständig bestimmbaren Eigendynamik der Naturvorgänge – erst dadurch aufgelöst werden können, dass die experimentellen Bedingungen und Vermittlungen mit berücksichtigt werden. Der Begriff der K ist geeignet, »die typischen Züge der Individualität von Quantenphänomenen zu erfassen und gleichzeitig die besonderen Aspekte des Beobachtungsproblems innerhalb dieses Erfahrungsgebietes klarzulegen. […] Tatsächlich findet die Individualität der typischen Quanteneffekte ihren logischen Ausdruck in dem Umstande, dass jeglicher Versuch […] neue, prinzipiell unkontrollierbare Möglichkeiten der Wechselwirkung zwischen den Objekten und den Messgeräten herbeiführt.« (1964) Dabei erklärt Bohr es für »entscheidend, dass, wie weit auch die Phänomene den Bereich klassischer physikalischer Erklärung überschreiten mögen, die Darstellung aller Erfahrung in klassischen Begriffen erfolgen muss« (…).

K ist demnach ein sprachliches Konzept, das bei der Übersetzung des quantenmechanischen Formalismus in die Alltagssprache notwendig ist. Dass es genau zwei sich gegenseitig ausschließende Beschreibungsweisen gibt, verweist jedoch auf eine Naturtatsache. Obwohl das Konzept der K primär auf die epistemologische Ebene abzielt, setzt es damit eine bestimmte Auffassung des physikalischen Seins voraus. Wellen- und Teilcheneigenschaften werden als zwei zur gleichen Zeit sich gegenseitig ausschließende, aber notwendig vervollständigende Existenzweisen eines Objekts gedacht. Da das physikalische Objekt trotzdem erfasst werden muss – schon aufgrund der Berechenbarkeit möglicher Spuren –, wird es als Gedankenkonkretum in die mathematische Abstraktion gerückt. Deswegen ist die der Quantenmechanik adäquate spontane Philosophie – zumindest für Heisenberg – die eines mathematischen Realismus und Platonismus: »Die letzte Wurzel der Erscheinungen ist also nicht die Materie, sondern das mathematische Gesetz, die Symmetrie, die mathematische Form« (1971).

Bewußtsein, bürgerliche Gesellschaft, Dialektik, dialektisches Bild, Egoismus, Eigentum, eingreifendes Denken, eingreifende Sozialforschung, Entfremdung, Experiment, Feuerbach-Thesen, Freiheit, Ganzes, Gegensatz, Geist, Gemeinwesen, Geschlechterverhältnisse, Gewaltenteilung, Glauben, Grundwiderspruch, Hegelianismus, Herrschaft, Himmel/Hölle, Imaginäres, Indeterminismus, Jenseits/Diesseits, junger Marx, Kirche, Kritische Theorie, Philosophie der Praxis, Relativität, Religionskritik, Schein, Staat, Tätigkeit, Totalität, Wechselwirkung, Widerspruch

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k/komplementaritaet.txt · Zuletzt geändert: 2024/02/19 21:51 von christian     Nach oben
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