Judenfrage

A: al-masʼala al-yahūdīya. – E: Jewish Question. – F: question juive. – R: evrejskij vopros. – S: cuestión judía. – C: yóutàirén wèntí 犹太人问题

Jack Jacobs (LH)

HKWM 6/II, 2004, Spalten 1685-1694

Wie fast überall in Europa war auch in Deutschland in den direkt oder indirekt unter der Herrschaft Napoleons stehenden Staaten unterm Einfluss der Französischen Revolution die Befreiung der jüdischen Bevölkerung von jahrhundertelanger Diskriminierung und Ausschließung eröffnet worden. Mit der Entkonfessionalisierung des Staats- und Gesellschaftslebens war es möglich geworden, Juden nicht mehr als religiös gebundenes Kollektiv zu betrachten. Nach dem endgültigen Sieg über Napoleon jedoch erfolgte die teilweise oder vollständige Rücknahme der Emanzipationsgesetze. […] Der Terminus ›J‹ wurde im deutschsprachigen Raum in der daran entzündeten öffentlichen Debatte geprägt. Zuerst tauchte er in den Titeln verschiedener Publikationen auf (vgl. Toury 1966), u.a. 1842 bei dem Junghegelianer Bruno Bauer. Sowohl in seinem Aufsatz Die Judenfrage als auch in einem nachfolgenden Artikel (Die Fähigkeit…) betonte Bauer, dass die Juden keine Gleichstellung erwarten könnten, bevor sie nicht dem Judentum abgeschworen hätten. Die Juden würden sich selbst täuschen, wenn sie dächten, sie würden durch eine Abschaffung der gesetzlichen Restriktionen seitens des Staates frei. Bauer war der Ansicht, die Juden könnten sich nur selbst befreien – und der erste Schritt in diesem Prozess bestünde darin, dass die Juden anerkennen würden, dass sie nicht durch die Besonderheit ihres religiösen Glaubens frei wären.

Marx, obgleich jüdischer Herkunft, wusste relativ wenig über die Juden und las kaum Arbeiten zur jüdischen Geschichte und Kultur. Während seines Universitätsstudiums schloss er Freundschaft mit Bauer und belegte dessen Seminar über Jesaiah. 1843 aber schrieb er eine scharf kritische Replik auf Bauer, die ein Jahr später unter dem Titel Zur Judenfrage in den DFJb erschien (…) und in welcher er sich nicht der J selbst, sondern lediglich den bauerschen Einlassungen widmete mit dem Ziel, diese »rigoros zu dekonstruieren« (Bensussan, KWM 4). »Bauers theologisch-politische Problematik wird umgekehrt in eine neue ökonomisch-politische Problematik.« (Ebd.; vgl. Haug 1983) Dabei rückt die Unterscheidung zwischen politischer und menschlicher Emanzipation in den Mittelpunkt. Die Juden hätten auch dann ein Anrecht auf erstere, wenn sie ihre Religion nicht aufgeben würden. Tatsächlich stellte sich Marx in der Beschäftigung mit Bauers Schriften zur J uneingeschränkt auf die Seite von dessen jüdischen Kritikern wie Ludwig Philippson, Raphael Hirsch und Gabriel Riesser (vgl. Rotenstreich 1959). Für Marx war das Ausmaß der den Juden garantierten gleichen politischen Rechte das Kriterium, nach dem die Modernität eines gegebenen Staates zu beurteilen sei (vgl. HF). […]

In den Jahrzehnten nach der Debatte zwischen Bauer und Marx wurde der Begriff J in breiteren Kreisen gebräuchlich und zunehmend weitergefasst. Er wurde sowohl von erklärten Antisemiten als auch von Philosemiten, von Juden und von Nicht-Juden verwendet und hatte, zum Ende des 19. Jh., eine neutrale Konnotation. Sozialisten verstanden ihn in der Regel als die Frage nach Natur und Perspektive des Judentums.

Antifaschismus, Antisemitismus, Aufklärung, Auschwitz, Austromarxismus, autoritärer Populismus, bürgerliche Gesellschaft, Chauvinismus, Egalitarismus, Emanzipation, Emigration, Endlösung, Entfremdung, Entstalinisierung, Ethnie/Ethnizität, Faschisierung, Faschismus, Französische Revolution, Frühsozialismus, Genozid, geschichtslose Völker, Gewalt, Holokaust, Judenfeindschaft, Kaste, Kautskyanismus, Kosmopolitismus (moderner), Kritische Theorie, Kulturindustrie, multikulturelle Frage, multikulturelle Politiken, Nationalstaat, Nazismus, Ökonomismus, Perestrojka, Pogrom, Rasse und Klasse, Rassismus, Reaktion, Reduktionismus, Russische Revolution, Sowjetische Gesellschaft, Stalinismus, Talmudismus, Trotzkismus, Universalismus, Völkermord, Vorurteil, Vulgärmarxismus, Wiedergutmachung, Zirkulation, Zweite Internationale, Zionismus

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j/judenfrage.txt · Zuletzt geändert: 2024/03/03 10:40 von christian     Nach oben
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