Krieg

A: ḥarb. – E: war. – F: guerre. – R: vojna. – S: guerra. – C: zhanzheng 战争

Étienne Balibar

HKWM 7/II, 2010, Spalten 2006-2026

K ist für den Marxismus nicht eigentlich ein Begriff, aber gewiss ein Problem. Tatsächlich gibt es in den Sozialwissenschaften oder in der politischen Philosophie kaum einen allgemeinen Begriff des K, nur eine auf unterschiedliche Erfahrungen und historische Situationen projizierte ›regulative Idee‹ (im kantschen Sinn): das Gegenteil von ›Frieden‹. Es gibt allenfalls einen juristischen (d.h. restringierten) Begriff des K – und der Marxismus ist zutiefst antijuristisch. So konnte er allenfalls Vorstellungen des K übernehmen und sich mit dessen philosophischer Idee auseinandersetzen, doch sind ihm diese Quellen mehr noch als in anderen Fällen äußerlich.

Der Marxismus konnte also keinen Begriff des K prägen, ihn aber sozusagen ›wiedererschaffen‹, d.h. die Frage in seine eigene Problematik einführen und eine marxistische Kritik des K oder eine kritische Theorie der Kriegführung oder der K-Konstellationen und -Prozesse hervorbringen, die einen ganz neuen Inhalt hat. Man könnte (und konnte) darin gewissermaßen eine Probe aufs Exempel sehen, ob er sich als wirklich selbständiger Diskurs zu behaupten vermag. In der Geschichte marxistischen Denkens findet sich viel Eigenständiges und ein großer Reichtum an erhellenden Analysen, was den K im Allgemeinen und seine besonderen Formen betrifft. Das Problem des K hat aber nicht dazu beigetragen, das Feld des Marxismus zu erweitern und seinen Zusammenhang zu festigen, es hat vielmehr eine zutiefst dekonstruktive Wirkung gezeitigt, indem es ihn an seine Grenzen führte und gleichzeitig aufgezeigt hat, dass er sich dieser Grenzen nicht wirklich bewusst werden konnte. So blieb der K für marxistische Denker eine beständige Quelle der Inspiration, doch je stärker er ins Zentrum gegenwärtiger Geschichte und Politik rückte, desto mehr wurde der Marxismus selbst – gleich jeder anderen politischen Theorie – zwischen gegensätzlichen Diskursen zerrieben, ja trotz seiner charakteristischen Betonung der Klassenkämpfe, der Antithesis von Staat und Revolution oder der globalen Auswirkungen des Kapitalismus von anderen politisch-theoretischen Diskursen ununterscheidbar.

Mehr noch: Das Eingreifen des Marxismus in die Debatten um K, daher auch um K und Frieden, hat diesen traditionellen Gegensatz von Grund auf in Frage gestellt und als zusätzliches Element die Revolution eingeführt. Die ›Klassenkämpfe‹ bilden dabei zum großen Teil nur den Hintergrund für die Idee der Revolution: der Revolution als einer Form des K, einer Alternative zum K, die nicht die des Friedens ist, oder dem Weg zu einem Frieden, der nicht durch K entsteht. Die verwirrenden Folgen für den Begriff des Politischen sind nicht nur im Marxismus zu finden, sondern auch in der ›bürgerlichen‹ Wissenschaft. Vom marxistischen Standpunkt, wie er von Marx ursprünglich formuliert wurde (Elend, Manifest), sind aber die Begriffe vom Klassenkampf und der Revolution apolitisch; sie antizipieren das ›Ende des politischen Staates‹ oder beseitigen die Autonomie der Politik. Umgekehrt stellt sich in der Kombination von ›Krieg‹ und ›Revolution‹ eine Kombination von Realisierungen und Hindernissen des Klassenkampfs dar, die sich im Endeffekt als zutiefst apolitisch erweist. Der Umgang mit K und dessen Verständnis bleibt also für Marxisten nicht nur ein Problem, eine (womöglich konstitutive) Grenze des historischen Materialismus; auch der apolitische Charakter des K tritt durch die Konfrontation mit dem Marxismus zutage. Das zeugt von dessen Bedeutung als einem der tiefgründigsten neuzeitlichen Theorisierungsversuche der Politik und des Politischen, deutet aber auch darauf hin, dass eine ›marxistische‹ Lösung bzw. überhaupt eine Auflösung der Rätsel, die jede Politik des Krieges aufgibt, unerreichbar bleibt.

Die Bearbeitung dieser Probleme orientiert sich an drei Leitfragen, die sich zwar überschneiden, aber dennoch separate Untersuchungen erfordern: Erstens das Problem, den Klassenkampf metaphorisch oder im Wortsinne als ›Bürgerkrieg‹ oder ›sozialen K‹ zu begreifen – ein Problem, das schon durch den ständigen Gebrauch von Begriffen wie ›Lager‹, ›Feinde‹ oder ›Gegner‹, ›Strategie‹ und ›Taktik‹ oder ›Schlachten‹, ›Siege‹ und ›Niederlagen‹ ungeheuren Einfluss auf die politische Organisation des Klassenkampfs hatte und auch die Rezeption des Marxismus in der politischen Theorie stark bestimmte. Zweitens ist zu fragen nach dem Verhältnis von K und Kapitalismus und den ›kapitalistischen K.en‹ oder den spezifischen Formen, Zielen und politischen Konsequenzen von K.en im Kapitalismus. Dies bildet zusammen mit damit verbundenen Fragen wie z.B. nach der Nationform und der nationalen Frage in der modernen Geschichte oder nach der Konstruktion des bürgerlichen Staates und seiner Militarisierung, aber auch nach seiner zunehmenden Stützung auf Volksarmeen und schließlich nach der Transformation des Kapitalismus zum Imperialismus den Kern jenes beständigen Versuchs, den historischen Materialismus auf das Problem des K anzuwenden, der in den 1850er Jahren mit Engels begann. Besonders hier müssen wir auf das clausewitzsche Erbe im Marxismus hinweisen. Drittens muss das historische Verhältnis von K und Revolution erörtert werden, d.h. das zentrale Problem der ›revolutionären K.e‹, d.h. die Dialektik von Militärischem und Politischem in revolutionären Prozessen oder Situationen, was gleichzeitig verunsichernde – und per definitionem ›apolitische‹ – Fragen bezüglich der Umkehrung revolutionärer in konterrevolutionäre Politik aufgrund der Militarisierung der Revolutionen aufwirft. Obwohl sich dieser Punkt nicht ohne die beiden anderen behandeln lässt, ist eine besondere Darstellung und Diskussion der Frage von K und Revolution notwendig zum Verständnis der gegenwärtigen Situation des Marxismus. Abschließend werden die ethischen und anthropologischen Dimensionen dieser politischen Debatten angesprochen, die eigentlich ein eigenes Thema wären. Selbstverständlich ist das Thema K auch durch andere Zugänge erschließbar. Das vorliegende Stichwort beansprucht gewiss nicht Vollständigkeit, lässt es doch Namen und Fakten beiseite, die wichtig sein mögen. Es artikuliert jedoch Hypothesen, deren Diskussion dazu beitragen soll, einen kritischen Zugang zur Geschichte und zum aktuellen Potenzial des Marxismus zu finden.

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