Korruption
A: fasād. – E: corruption. – F: corruption. – R: korrupcija. – S: corrupción. – C: fuhua 腐化
Wolfgang Fritz Haug (I.), Pablo González Casanova (II.)
HKWM 7/II, 2010, Spalten 1834-1860
I. K meint den eigennützigen Bruch von Verpflichtungen, die man gegenüber anderen, v.a. gegenüber einem Gemeinwesen eingegangen ist. Wenn der Kapitalismus als das eigentliche Reich der K erscheint, so ist doch auch jedes Projekt solidarischer Vergesellschaftung der K-Gefahr ausgesetzt. So wichtig die Moral jedes einzelnen Individuums im Sinne verlässlicher Solidarität ist, so ist es letztlich entscheidend, die Bedingungen struktureller K zu minimieren, auch wenn sie sich wohl nie ganz werden ausschalten lassen. Daher ist die Erfahrung der staatssozialistischen Länder mit K zu studieren. Ihre Geschichte lehrt z.B., dass bestimmte Formen der K-Bekämpfung Öl ins Feuer der K gießen.
Das Wort leitet sich ab von lat. corrumpere (verderben, verpfuschen; jmd. verführen, bestechen), das sich seinerseits von rumpere (brechen, zerreißen) herleitet. Wenn der ›Einbrecher‹ von außen kommt und mit Gewalt arbeitet, so arbeitet die K mit Objekten der Begierde, um innere Schranken zu zerbrechen. K entzündet sich mit der Energie von Chancen-, Macht- und Reichtumsgefällen an politischen, rechtlichen, moralischen, religiösen, sogar ästhetischen Grenzen. Unterscheiden lässt sich eine systemische oder strukturelle von einer intersubjektiven K. Wie man bei Bestechung als dem häufigsten Fall von K zwischen aktiver und passiver Bestechung unterscheidet, so auch bei intersubjektiver K. Als aktive K geht es ihr darum, fremden Willen dazu zu bringen, solche Grenzen zu verletzen oder solche Verletzung zu dulden. Letzteres wird passive K genannt, was verwischt, dass auch interessierte Untätigkeit als bewusste Handlung begriffen werden muss. Wo K an der Front gesellschaftlicher Antagonismen sich ereignet, kann es zur Frage des Standpunkts und damit der Parteilichkeit werden, was von jeweils einer der Gegenseiten als K definiert wird.
Unter kapitalistischen Bedingungen weist die monetäre Bereicherungs-K neben der sich ums Einkommen drehenden Karriere-K allen anderen Formen ihren Platz zu. Sie konzentrieren sich an den Grenzen zwischen Staat (Politik) und Markt (Profitlogik) sowie zwischen konkurrierenden Profitinteressen. Ihre modernen Hauptwurzeln haben sie im Kapitalismus. Diesseits der spektakulären K-Fälle betreffen sie aber mehr oder weniger alle Individuen in ihrer Haltung und Lebensführung. Um das vorzuführen, hat Brecht in den Sieben Todsünden der Kleinbürger sieben moralisch-kulturelle K.en der unter kapitalistischen Bedingungen nach sozialem Aufstieg Strebenden gestaltet. Und in einem Gedicht von 1935 schildert er die K derer, die Unrecht zwar nicht beschönigen, aber auch nicht kritisieren: »Um sein Brot nicht zu verlieren / In den Zeiten zunehmender Unterdrückung / Beschließt mancher, […] / Zwar nichts zu enthüllen, aber / Auch nichts zu beschönigen. […] Nicht ungnädig / Nehmen die Unterdrücker ihn auf, der da bereit ist / Sein Brot nicht zu verlieren. / Er geht nicht einher wie ein Bestochener / Da man ihm ja nichts gegeben, sondern / Nur nichts genommen hat.« (An die Gleichgeschalteten)
Im niedergehenden europäischen Staatssozialismus hat sich ein K-System herausgebildet, in dem unter der Dominanz der parasitären »konsumtiven K« die »produktive K« zur ökonomischen Notwendigkeit wurde, um den Produktionsprozess aufrechtzuerhalten (Haug 1989). Wo, wie v.a. in der VR China seit dem Kurswechsel unter Deng Xiaoping, eine KP die staatlichen Kommandohöhen monopolisiert, um das Land kapitalistisch nachholend zu modernisieren, verlagert sich das Kräftemessen zwischen politischem Allgemeinwillen und privatem Bereicherungsinteresse in die Staatspartei und taucht diese in den Augen der regierten Massen ins Licht der K schlechthin. Dieser durch Skandale genährte Eindruck überstrahlt dabei die Grundtatsache, dass sich der Kapitalismus vom Anbeginn der sog. ursprünglichen Akkumulation als die zum System gewordene K und als das Korrodierende jeder politisch-moralischen Ordnung präsentiert.
II. K wird hauptsächlich von drei Standpunkten aus definiert: 1. dem des hegemonialen Systems; 2. dem des kritischen System-Denkens, das den Kapitalismus allerdings nicht ›delegitimiert‹; 3. dem des kritischen, von Marx ausgehenden Denkens. Die gängige Definition geht auf Aristoteles’ Bestimmung der κακία τῶν ἀρχόντων zurück, der »Schlechtigkeit der Regierenden«: »Sie verteilen, was der Polis gehört, entgegen der Würdigkeit: die Güter geben sie alle oder zum größten Teil sich selbst, die Ämter immer denselben, und an oberster Stelle steht für sie die Bereicherung [τὸ πλουτεῖν]« (EN). Die in der Gegenwart hegemoniale Definition ist die neoliberale, wie sie sich etwa im Wörterbuch der Real Academia Española findet: »Eine Praxis in v.a. öffentlichen Organisationen, deren Funktionen und Mittel durch die dort Tätigen zu ökonomischem oder andersartigem Vorteil genutzt werden« (22.A., 2001). Der Sinn dieser Definition hängt mit der Legitimierung des ›Abbaus‹ oder der ›Verschlankung‹ des Sozial- und Nationalstaates zusammen. Die neoliberale Politik tendiert dazu, Regierungen und Staaten als korrupte Institutionen zu charakterisieren, wobei sie kritisches Denken bis zu diesem Punkt duldet, aber alsbald zurückweist, wenn es das Kapital und den kapitalistischen Markt als solche grundsätzlicher ins Visier nimmt, statt sich auf Auswüchse zu beschränken. Offene Gewalt entfesselt sie nur dann gegen ›selbsternannte Kritiker‹, wenn Krisen sich zuspitzen und Kritik in nicht mehr zu kontrollierenden Formen sich ausbreitet.
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