Kosmopolitismus, antiker
A: kozmobolītāniya klāsīkiya. – E: ancient cosmopolitism. – F: cosmopolitisme antique. – R: drevnij kosmopolitizm. – S: cosmopolitismo antiguo. – C: gudai shijie zhuyi 古代世界主义
Wolfgang Fritz Haug
HKWM 7/II, 2010, Spalten 1880-1891
Marx griff der Zeit weit voraus, als er 1847 im Manifest erklärte: »Die Bourgeoisie hat durch ihre Exploitation des Weltmarkts die Produktion und Konsumtion aller Länder kosmopolitisch gestaltet.« (…) Das unterm Deckwort ›Globalisierung‹ beredete, von Antagonismen zerrissene Werden der »kulturellen Vereinigung der menschlichen Gattung« (Gramsci, Gef), das im Internet und den erdumkreisenden Relaisstationen der Kommunikation und Kontrolle seine handfesten technischen Anhaltspunkte erhalten hat, macht aus jener Aussage eine Prognose, die eingetroffen ist, auch wenn zu präzisieren ist, dass der K der Produktions- und Lebensweise gespalten ist in den »gut gepolsterten partikularen K des transnationalen Kapitals« und den »Notkosmopolitismus der migrierenden Arbeitskräfte und der politischen Flüchtlinge« (Haug 2009). Indem der US-Präsidentschaftskandidat Barack Obama sich 2008 in Berlin nicht, wie einst John F. Kennedy, als Berliner, sondern als »Weltbürger« (citizen of the world) bekannte, wiederholte er das dem antiken Kyniker Diogenes zugeschriebene Diktum.
Der antike K-Diskurs, der über viele Regimewechsel und Strukturveränderungen sozio-ökonomischer Herrschaft und politischer wie ideologischer Herrschaftsreproduktion hinweg die fast tausend Jahre der hellenistischen Bildungswelt durchzog, führt eine Dialektik vor Augen, die der modernen K-Diskussion einen Spiegel vorhält. Bei allen fundamentalen, ökonomisch bedingten Unterschieden finden die Selbstverständnisse des fragmentierten Imperiums des transnationalen Hightech-Kapitalismus in der Gestalt des mit den Weltverhältnissen sich immer wieder wandelnden und neue Funktionen annehmenden antiken K eine z.T. erstaunlich parallele Welt. Ihre Betrachtung kann dazu beitragen, aus der Parallele mit der unheilbar antagonistischen imperialen Welt auszubrechen und eine ›andere Welt‹ mit anderen Weltverhältnissen denkbarer zu machen.
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