Fakten

A: waqā’i‛. – E: facts. – F: faits. – R: fakty. – S: hechos. – C: shishi

Wolfgang Fritz Haug

HKWM 4, 1999, Spalten 57-71

Von lat. facere, »tun, handeln, machen, schaffen«; in der Spätantike von Priscianus als Synonym für gr. tò genómenon kaì tò érgon (»das Gewordene und das Werk«) gebraucht (Instit. grammat., II, 563, 4; vgl. Halbfass 1998). Den Zusammenhang zwischen objektiven Daten oder Gegebenheiten und subjektiver Tätigkeit halten die romanischen Sprachen aufrecht (frz. faire -> fait, span. hacer -> hecho), für sie sind die F=das Gemachte. Der zumeist synonym mit F verwendete dt. Ausdruck Tatsachen weist gleichfalls die Herleitung vom Tun auf, doch verbindet er dieses mit seinem Gegenstand/Gegensatz, der Sache, in einer bedenkenswerten Dialektik im Stillstand. In den Kämpfen um Feststellung und Status der F sowie um die Deutungsvollmacht ihnen gegenüber gerät sie in Bewegung. – Hegel arbeitet mit der widersprüchlichen Zusammensetzung des Ausdrucks »Tatsache« anlässlich der Rede von »Bewusstseinstatsachen« (Fichte), »die für den Geist […] ein Unvermitteltes, bloß Gegebenes […] bleiben müssten«; wenngleich »auf dem Standpunkt des Bewusstseins sich vieles solches Gegebene findet«, habe doch »der freie Geist diese Tatsachen nicht als […] selbständige Sachen zu belassen, sondern als Taten des Geistes, als einen durch ihn gesetzten Inhalt, zu erweisen« (Enz, III). Das heißt aber nicht, dass er F nicht als solche respektieren würde. Er spottet etwa darüber, dass Bruckers Philosophiegeschichte es nicht lassen kann, antike Philosopheme nach Regeln der wolffschen Metaphysik zu ergänzen »und eine solche bare, reine Andichtung so unbefangen aufzuführen, als ob sie ein wirkliches historisches Faktum wäre« (W 20).

›F‹ bezieht sich auf festgestellte ›Sachverhalte‹ und ›Tatbestände‹ unterschiedlichster Art, vom Gegenstand sinnlicher Wahrnehmung (Hegels »jetzt ist Tag«, das sich nach einigen Stunden als kontrafaktisch herausstellt), über das »Faktum […], dass alles, aber auch alles zur Ware geworden war« (Brecht, GA 21), bis hin zum »weltgeschichtlichen Faktum« (Marx) einer Produktivkraftentwicklung (s.u). F ereignen sich überraschend, als Bestimmung eines bisher Unbestimmten, oder monoton, als das Einerlei einer repetitiven Reihe. Auf anderer Ebene manifestieren sie sich kaleidoskopisch, als F-Konstellation (›Konjunktur‹). Festgestellt werden sie als Antwort auf eine Frage, Befund einer Untersuchung, Erfahrung eines Handlungshindernisses usw. Obwohl wir die Feststellung der F machen, machen wir nicht das Festgestellte; über F als ein So-und-nicht-Anders haben wir nicht zu entscheiden. In den Erfahrungswissenschaften bilden sie Ausgangsmaterial von Verallgemeinerungen und das sich Erweisende, von dem der Beweis (oder die Erhärtung) einer Prognose und die Validität der Rahmentheorie abhängen. Sie machen Erfolg und Misserfolg aus und bestärken oder schwächen eine einmal eingeschlagene Handlungsrichtung: Engels’ Pudding, der sich beim Essen als solcher zu erweisen hat (vgl. Labica 1987), existiert primär als Gebrauchswertversprechen, bis dieses sich im Gebrauch faktisch auf bestimmte Weise erfüllt oder nicht erfüllt. F sind auch das Pragma der Pragmatiker, das Mao Zedong ins Motto der zentralen Parteischule geschrieben und Deng Xiaoping (1984) zur Staatsdoktrin erhoben hat: »Die Wahrheit in den Tatsachen suchen!« Zugleich bleiben ihre spontan erzeugten Evidenzen »falsche Evidenzen« (Althusser 1967, solange sie nicht als vermittelte gefasst werden.

Eine grundlegende alltägliche Unterscheidung ist diejenige zwischen »›things done‹ and ›things thought of or imagined‹« (Williams 1989). Dem Alltagsverstand erscheinen F daher einfach als das, ›was der Fall ist‹; F sind ihm das zweifelsfrei weil unvermittelt Gegebene, wie es die Derivate ›faktisch‹ und ›Faktizität‹ besagen. Diese spontane Gewissheit zeigt sich bei näherer Überlegung als »ein Dämmerlicht von Wahrheit und Täuschung«, als »Welt der Pseudokonkretheit« (Kosík 1967). Positivistischer F-Glaube, der sich mit dem Alltagsverstand berührt, ist einseitig verhärtetes Relikt der intellektuellen Aufbruchsbewegung, die entschlossen ist, sich von metaphysischen ›Fikionen‹ (Hume) nicht mehr beeindrucken zu lassen. Als Zerrbild dieser Tendenz tritt zum »Bürokraten in der Partei«, wie Rosa Luxemburg zornig notiert, »der deutsche Professor auf dem Katheder hinzu, der theoretisierende Bürokrat, der den lebendigen Stoff der sozialen Wirklichkeit in die kleinsten Fasern und Partikelchen zerpflückt, nach bürokratischen Gesichtspunkten umordnet und rubriziert und so abgetötet als wissenschaftliches Material für die verwaltende und gesetzgebende Tätigkeit der Geheimräte abliefert. Diese fleißige Atomisierungsarbeit, die es erreicht, das Bild des sozialen Lebens wie in einem in tausend Splitter zertrümmerten Spiegel wiederzugeben, ist zugleich das sicherste Mittel, alle großen sozialen Zusammenhänge theoretisch aufzulösen und den kapitalistischen Wald hinter lauter Bäumen ›wissenschaftlich‹ verschwinden zu lassen.« (GW 1/2) – Während konservativer Positivismus die F normiert, als gälte es, die Verhältnisse insgesamt zu verewigen, kann die ›normative Macht des Faktischen‹, die so oft die Sache der faktischen Macht besorgt, auch deren Verkrustungen progressiv aufbrechen.

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