Lumpenproletariat

A: ḥuṯālat al-brūlītārīya. – E: lumpenproletariat. – F: lumpenprolétariat, sous-prolétariat. – R: ljumpen-proletariat. – S: lumpenproletariado, proletariado en harapos. – C: liúmáng wúchǎn jiējí 流氓无产阶级

Peter Bescherer

HKWM 8/II, 2015, Spalten 1379-1393

Der Term L bezeichnet im marxistischen Diskurs sozial degradierte, von den Herrschenden korrumpierbare und daher im Klassenkampf passive oder ambivalent agierende Teile der sozialen Unterschichten. Im Sprachgebrauch des 19. Jh. bezeichnet ›Lump‹ einen »in abgerissener kleidung einhergehenden, daher armseligen, erbärmlichen« und »liederlichen menschen, der die sorge für seinen häuslichen wohlstand aufgegeben hat« (Grimm 1885, Bd. 12, 1292); und ›Proletariat‹ steht v.a. in seiner »altrömischen Bedeutung« für »Menschen ohne Besitz und Eigentum, unterhalb von Bildung, Ehre, bürgerlicher Berechtigung« sowie für »Sittenverfall, Rohheit, Arbeitsscheu und unmoralisches Anspruchsverhalten« (Conze 1984, GG 5, 41f).

Dagegen grenzen Marx und Engels mit dem Kompositum L – zuerst in Auseinandersetzung mit Max Stirner (DI, 3/183f u. 188), der Proletariat, Pöbel, Vagabunden und Pauper in eins setzt (1845/1972, 123) – den Großteil der sozialen Unterschichten, die im bürgerlichen Verständnis das Proletariat bildeten – die Armen, Tagelöhner und Hilfsarbeiter, kleinen Bediensteten, Bettler, Vagabunden, Diebe, Prostituierten usw. –, vom modernen lohnarbeitenden Proletariat ab (Draper 1978, 456).

In ihrer Konzeptbildung und im Marxismus insgesamt schwankte die Funktion des Terms zwischen Analyse und – zumeist negativer – Wertung. Infolge seiner Mehrdeutigkeit wird er in anderen Sprachen zumeist im Original belassen (so bei Lenin oder Gramsci). Je nach historischem und politischem Kontext stand bei der Beurteilung des L entweder die Frage im Vordergrund, was Arme und Deklassierte zur Überwindung ihrer misslichen Lage und zum revolutionären Klassenkampf beitragen können, oder es ging darum, wie politisch unzuverlässige oder gar unmittelbar zur Konterrevolution neigende Randschichten vom Klassenkern des Proletariats zu unterscheiden waren. Beide Beurteilungen bezogen sich auf das Verhältnis des L zur Arbeiterklasse und ihren politischen Organisationen: die eine auf ein eher inklusives (d.h. Bündnisse ermöglichendes), die andere auf ein eher exklusives (d.h. ein Zusammengehen im Klassenkampf ausschließendes).

Seit dem letzten Drittel des 20. Jh. hat dieses primäre Urteilskriterium angesichts der grundlegend veränderten Stellung der traditionellen Industriearbeiterschaft an Bedeutung verloren. Ohnehin werden aufgrund sozialstruktureller Komplexität und intersektionaler Verschränkung von Machtverhältnissen die geläufigen Klassenbegriffe generell problematisiert. Von L ist dabei kaum noch die Rede, auch wenn die Rückkehr und neuartige Zuspitzung der sozialen Frage unter den Bedingungen des Neoliberalismus den unterschiedlichen Aspekten der Problematik neue Relevanz verschafft hat und das Problem, wie sich degradierte und in prekären Verhältnissen lebende subalterne Schichten in sozialen Kämpfen verhalten, akut bleibt.

Anarchismus, Arbeiteraristokratie, Arbeiterbewegung, Arbeiterklasse, Armut/Reichtum, Bonapartismus, Elend, Eurozentrismus, Große Weigerung, Klasse an sich/für sich, Klassenanalyse, Klassenbewusstsein, Klassenkampf, Klassenlage, Konterrevolution, Kräfteverhältnis, Kritische Kriminologie, Kybertariat, Lumpenbourgeoisie, Manipulation, Marginalisierung, Maschinenstürmer, Moral, Opportunismus, Pauper, Prekariat, Proletariat, proletarische Revolution, Proletarisierung, Propaganda/Agitation, Prostitution, Randgruppenstrategie, Reaktion, Ressentiment, Revolution, revolutionäres Subjekt, Revolutionstheorie, Spaltung, Subalternität, Subproletariat, Sucht, Verbrechen, Verelendung, Voluntarismus, Wohnungsfrage

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