Irrationalität des Kapitalismus

A: lā ʽaqlānīyat ar-raʼsmālīya. – E: irrationality of capitalism. – F: irrationalité du capitalisme. – R: irracionaľnost’ kapitalizma. – S: irracionalidad del capitalismo. – C: zīběnzhǔyì de bùhélǐ 资本主义的不合理

Wolfgang Fritz Haug

HKWM 6/II, 2004, Spalten 1542-1554

Lat. irrationalis, gr. álogos, ist das, was sich nicht berechnen bzw. logisch begründen lässt. Die ratio meint im Lat. zunächst die Rechnung; noch für Hobbes ist daher reason »nothing but reckoning (that is, adding and subtracting) of the consequences of general names agreed upon« (Leviathan). Das Adjektiv »irrational« gelangt »mit seinen zugehörigen Substantivierungen […] als Übertragung eines mathematischen Sprachgebrauchs in die Philosophie« (Rücker 1976); die Bedeutung des Ausdrucks dehnt sich metonymisch aus auf Triebkräfte und Strukturen, die man »mit einem stark gefühlsbetonten Kollektivausdruck kurzweg das ›Irrationale‹ nennt« (Hönigswald 1961), worunter nicht nur das Vernunftlose, sondern auch das Vernunftwidrige gefasst werden kann. Doch schwingt das ›Unberechenbare‹ noch mit in der ›I‹ (Unvernünftigkeit) im weiteren Sinn, wenn etwas »logisch, mit dem Verstand, mit dem Denken nicht fassbar« ist (Kondakow 1978). Um bestimmte Widersprüche der kapitalistischen Formenwelt zu kennzeichnen, vergleicht Marx sie mit der imaginären Zahl i, von der noch Musil seinen Zögling Törless fasziniert sein lässt: der Quadratwurzel aus -1, mit der man rechnen kann, obgleich sie sich per definitionem nicht rechnen lässt. Für Leibniz ist sie ein »Monstrum der idealen Welt« (Mathemat. Schriften), Element einer »ehemals […] unmöglich genannten« Zahlenart (Gauss 1831; zit.n. Becker 1975).

Maurice Godelier warnt, »dass, wenn man die Frage nach Rationalität oder I der Ökonomie als Wissenschaft und als gesellschaftliche Wirklichkeit angeht mit einer ›apriorischen‹ Vorstellung, einer spekulativen Definition des Vernünftigen, – dass dann die Antwort insgesamt nur ideologisch sein kann« (1972). Er zeigt, dass vom aufsteigenden französischen Bürgertum seine eigenen, kapitalistischen Verkehrsformen als »den Grundsätzen der ›natürlichen Vernunft‹« entsprechend behauptet wurden: »So wurden die Mechanismen der Warenwirtschaft zugleich beschrieben und ›gewertet‹. Fakten wurden zu ›Normen‹. Das neue ökonomische System wurde gesetzt und ›gelebt‹ als ein ›Modell‹, vor dem die Regeln des Ancien régime und der anderen Gesellschaften angeklagt, gerichtet und der ›I‹ für schuldig erkannt wurden.« (…) Der Maßstab für Ir/Rationalität ordnet sich »um zwei Bedeutungspole. Unter ›rationaler‹ Ökonomie versteht man sowohl eine ›effektive‹ wie auch eine ›gerechte‹ Ökonomie. Die Effektivität hängt ab von den technischen Strukturen der Produktion […]; die ›Gerechtigkeit‹ ist abhängig von den Beziehungen der Menschen untereinander bei der Aneignung der Ressourcen und des gesellschaftlichen Produkts. Konfrontiert man diese beiden Bedeutungsfelder […], so bemerkt man eine Asymmetrie zwischen beiden. Die technische Effektivität ist Gegenstand eingehender, auf mathematische Verfahren gestützter Analysen. […] Um die ›soziale Gerechtigkeit‹ indessen werden, wie es scheint, unerbittliche Auseinandersetzungen geführt« (…). In dieser Spannung muss die Frage der Ir/Rationalität des Kapitalismus »als unausweichliche und beharrliche Frage das Zentrum des täglichen Lebens« bilden, Brennpunkt theoretisch-praktischer Lösungsvorschläge (…).

Betrachtet man die kapitalistische Ökonomie unter dem selbstgestellten ›vernünftigen‹ Anspruch »der geordneten Bedarfsdeckung durch Einsatz beschränkter Zeit und knapper Mittel« (Geigant u.a. 1979), gar unter dem ins Sozialistische gesteigerten der »geplanten Nutzung der Ressourcen zur Befriedigung der Lebensbedürfnisse bei einem Minimum an harter Arbeit, der Umwandlung der Freizeit in freie Zeit, der Befriedung des Kampfes ums Dasein« (Marcuse 1967), dann kann ein System irrational genannt werden, das nicht nur die Gesellschaft praktisch mit riesigen ›faux frais‹ und theoretisch mit metaphysischen Geheimnissen wie denen des ›fiktiven Kapitals‹ konfrontiert, sondern »die Technik und Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprozesses« nur entwickeln kann, indem es »zugleich die Springquellen alles Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter« (Marx, K I).

Wie ein Sinnbild ökonomischer Ir/Rationalität wirkte zur Zeit des fordistischen Staatsinterventionismus der Vorschlag von John M. Keynes, zur Ankurbelung der Konjunktur Geldscheine in stillgelegten Kohlengruben zu deponieren, diese zuschütten zu lassen und Lizenzen zum Ausgraben derselben zu vergeben. Dass im transnationalen High-Tech-Kapitalismus viele Krankheiten gelindert, gar geheilt werden könnten, stünden dem nicht die Profitinteressen der Pharmaunternehmen und entsprechende rechtliche Regelungen entgegen; dass es möglich wäre, mit den gegebenen Produktionsmitteln alle Menschen der Welt ausreichend zu ernähren, während mehr als 2,8 Mrd. Menschen über weniger als zwei Dollar pro Tag zum Leben verfügen (Stiglitz 2002); dass mitten in sich ausbreitender Massenarbeitslosigkeit die Arbeitszeit verlängert statt verkürzt wird usw. usf., bezeugt »Sinn im Kleinen und Sinnlosigkeit im Großen« des kapitalistischen »Gesellschaftssystems« (Baran 1966) und spricht für die »prinzipielle I kapitalistischer Vergesellschaftung« (Esser/Görg/Hirsch 1994). Gleichwohl sind solche Redeweisen klärungsbedürftig. Zu explizieren sind Kriterien und Standpunkt, auch im Vergleich mit I.en der Planwirtschaft sowjetischer Prägung.

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