Irrtum
A: al-ḫaṭaʼ, al-ġalat. – E: error. – F: erreur. – R: ošibka, zabluždenie. – S: error. – C: cuòwù 错误
João Maria de Freitas-Branco, Wolfgang Fritz Haug
HKWM 6/II, 2004, Spalten 1555-1567
»Irrtum ist Irrtum! Ob ihn der größte Mann, ob ihn der kleinste beging«, heißt es in Goethes und Schillers Xenien. Doch wenn Shakespeare erklärt, dass »falsehood is worse in kings than beggars« (Cymbeline), enthüllt er einen moralischen Kern, der in der Lüge gegenwärtig ist, aber im I fehlt; denn hier sind Könige und bettelnde Vasallen gleichermaßen überzeugt, dass sie die Wahrheit sprechen. Lüge oder Betrug werden absichtlich begangen, der I widerspricht der Absicht; jene zielen auf fremden I, sind aber selbst keiner. Irrtümer gründen auf »falschen ›Evidenzen‹« (Althusser 1967). Durchschaut werden sie von denen, die sie begehen, allenfalls nachträglich. »Der Satz ›Ich irre jetzt‹ […] ist sinnlos.« (Schwarz 1976) Anders als ›falsches Bewusstsein‹ ist ein I konkret-gegenständlich benennbar. Während ›Fehler‹ v.a. darin bestehen, ein Handlungsziel praktisch zu verfehlen, ist der I theoretisch: Irrtümer sieht man ein, wenn sich eine Annahme als unzutreffend herausstellt, weil man etwas falsch eingeschätzt, nicht berücksichtigt oder verwechselt hat.
Das Gegenteil des I ist die Wahrheit. Doch die Wahrheit von heute kann sich morgen als I herausstellen. Die Erfahrung dieser unabschließbaren Bewegung und unaufhebbaren Zweideutigkeit kann zu Relativismus führen oder eine generelle Skepsis nähren. Im Gegenzug stemmte sich dagegen immer wieder ein Fundamentalismus der einen Wahrheit, der in die Falle der Ideologie geht. Dagegen sagt man, »wenn ich mich nicht irre …«, oder: »täusche ich mich nicht, dann ist …«, und gibt so zu verstehen, dass man keinen Absolutheitsanspruch stellt, sondern sich ›einreiht‹. Mythos und Dichtung haben große Gestalten des I hervorgebracht: Ödipus, der im I schuldig wird, Odysseus, die personifizierte Irrfahrt, Don Quijote, der sich in der Epoche irrt.
Irrtümer – von der Fehleinschätzung einer Situation oder einer gesellschaftlichen Kraft bis zur Verblendung derjenigen, deren Projekt sich hinterrücks ins Gegenteil des ursprünglich Angestrebten verwandelt hatte – begleiten auch die Geschichte von Theorie und Praxis des Marxismus. Die begriffliche Einsicht in die Bedingungen dieser Tatsache ist oft schwach entwickelt. Die Erkenntnis gesellschaftlicher Determiniertheit von Sichtweisen gehört an sich zu den Stärken des Marxismus; doch im Blick auf die eigene Betroffenheit durch das, was Theodor W. Adorno den »Verblendungszusammenhang« nennt, fehlt es weithin an geschichtsmaterialistischer Selbstreflexion. Der Grundirrtum der theoretischen Materialisten besteht dann darin, sich mangels Selbstanwendung wie praktische Idealisten zu verhalten.
Das Unbewusste, die Täuschungseffekte der Sprache, die prinzipielle Begrenztheit und Brüchigkeit der ›menschlichen Realität‹ sind eher von Gegnern des sozialistischen Projekts oder von denen, die sich kritisch-theoretisch in praxislose Kritik oder geschichtliche Skepsis zurückgezogen haben, reflektiert worden.
»Schadet ein I wohl?«, fragt Goethe und antwortet: »Nicht immer! aber das Irren, / Immer schadet’s. Wie sehr, sieht man am Ende des Wegs.« (Vier Jahreszeiten) Bertolt Brechts Geschichte Mühsal der Besten empfiehlt den selbstironischen Umgang: »›Woran arbeiten Sie?‹ wurde Herr K. gefragt. Herr K. antwortete: ›Ich habe viel Mühe, ich bereite meinen nächsten I vor.‹« (…)
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