Fundamentalismus
A: naz‛a usūlīya. – E: fundamentalism. – F: fondamentalisme. – R: fundamentalizm. – S: fundamentalismo. – C: jiben jiaoyi zhuyi
Domenico Losurdo
HKWM 4, 1999, Spalten 1102-1111
In der Regel wird F als polemischer Kampfbegriff gebraucht. Wer den historischen Revisionismus verurteilt, gilt als Fundamentalist des Antifaschismus, Markt-F steht gegen Sozialstaats-F, industrialistischer gegen grünen F usw. – der Term wird so allgemein, dass alle Katzen grau werden. Um den F zu verstehen, muss man auf diesen Gebrauch verzichten.
Darüber hinaus muss sich eine Begriffsbestimmung von zwei Gemeinplätzen trennen. Nämlich zum einen von der Verknüpfung des F mit dem Islam. Wenn der F nach den geläufigen Definitionen mit dem Anspruch einhergeht, seine politischen Grundsätze von einem als heilig betrachteten Text abzuleiten, der auf diese Weise zum Instrument für die Delegitimierung weltlicher Normen wird, dann muss die Begriffsbestimmung vom Singular zum Plural übergehen und z.B. einen jüdischen und christlichen F miteinbeziehen. Nicht umsonst taucht der Terminus zum ersten Mal in amerikanischen protestantischen Kreisen mit Bezug auf eine Bewegung auf, die sich vor dem Ersten Weltkrieg herausbildet und deren Anhänger sich gelegentlich selbst als »Fundamentalisten« bezeichnen. Im Zentrum der westlichen Welt als positive und stolze Selbstbestimmung entstanden, wird die Kategorie zur Abstemplung der außerhalb der westlichen Welt angesiedelten »Barbaren« benutzt, die sich in Wirklichkeit lieber »Islamisten« nennen.
Ein zweiter Gemeinplatz kritisiert am F die obskurantistische Auflehnung gegen die westliche Modernität. Aber selbst die bescheidenste soziologische Analyse zeigt, dass es sich um Bewegungen handelt, die ihre soziale Massenbasis vor allem in den Städten und hier wiederum in erster Linie bei studentischen Eliten haben: häufig aus modernen, nicht religiösen Fakultäten mit Ausrichtung auf die angewandten Wissenschaften – Agronomen, Elektrotechniker, Ärzte, Ingenieure –, Intellektuelle also mit einer erstklassigen Ausbildung, die freilich häufig in ihrem sozialen Aufstieg frustriert wurden, z.T. mit bedeutender internationaler Erfahrung (z.B. durch einen mit iranischen Stipendien ermöglichten US-amerikanischen Hochschulabschluss; vgl. Kepel 1991; Spataro 1996). Die Unangemessenheit eines F-Begriffs, der sich auf die Dichotomie modern/vormodern stützt, zeigt sich auch darin, dass das einzige Land im Mittleren Osten, in dem der F gesiegt hat, nämlich der Iran, das sowohl auf wirtschaftlich-sozialem als auch auf politischem Gebiet modernste Land der Region ist. Es hat die Revolution zu Beginn des Jh. und den Demokratisierungsversuch Mossadeghs hinter sich, dem 1953 unter starker Beteiligung der CIA ein Ende bereitet wurde.
Es gibt keine Kultur, die sich nicht dem Verdacht des F ausgesetzt hat. Und dennoch genügt es nicht, vom Singular zum Plural überzugehen, um dieses Phänomen zu definieren. Der F ist nicht die Seinsweise einer bestimmten Kultur, sondern eine spezifische Reaktionsweise auf den Zusammenstoß zwischen verschiedenen Kulturen, die sich durch die Konstruktion einer eifersüchtig gehüteten und exklusiven Identität auszeichnet. F ist die Abstoßungsreaktion einer Kultur gegenüber einer anderen sowie die Tendenz, beide als etwas Naturhaftes aufzufassen.
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