Faulheit

A: kasal. – E: laziness. – F: paresse. – R: len’. – S: pereza. – C: landuo

Klaus-Michael Bogdal (I.), Wolfgang Fritz Haug (II.)

HKWM 4, 1999, Spalten 211-220

I. Ob Sklavenfron, Leibeigendienst, Lohnarbeit oder Plansollerfüllung im Staatssozialismus – immer wieder haben die Arbeitenden davon geträumt, ihre wirkliche Bestimmung jenseits der Verausgabung ihrer physischen und psychischen Kräfte zu finden: Lob der F. Nicht erst Marx hat im Kapital diese Sehnsüchte formuliert: »Das Reich der Freiheit beginnt in der Tat erst da, wo das Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört; es liegt also der Natur der Sache nach jenseits der eigentlichen materiellen Produktion.«

›F‹ haben die Unternehmer im 19. Jh. gerufen, als die Arbeiter den Zehnstunden-, den Achtstundentag forderten. Und der Müßiggang sei des Lasters der Selbstbestimmung Anfang. Auch Gelehrte dieser Zeit wie Gustav Freytag wissen: »Der Deutsche ist am größten und schönsten, wenn er arbeitet.« (1853). Für die Arbeitenden kann ›F‹ ein Mehrfaches bedeuten: zunächst einfach Nicht-Arbeit, dann Genuss ohne Anstrengung, weiterhin Muße (vita contemplativa) und schließlich »tätige Muße« (Bloch) in der Freizeit oder »die menschliche Kraftentwicklung, die sich als Selbstzweck gibt« (Marx, K III).

II. F im Sinne von Nicht-Arbeit zu loben, lässt sich mit Marx als Protestform begreifen, welche die ideologisch überhöhte Antreibung zu entfremdeter Arbeit umkehrt; in bestimmter Negation orientiert Marx statt dessen wie vor ihm Fourier auf nicht-entfremdete, »freie Arbeit« als »Selbstverwirklichung«. Den polemischen Vorwurf ›F‹ wiederum erkennt er als einen, dessen Bezugsgrößen und verborgene Dialektik es ans Licht zu heben gilt. – Arbeitszeitverkürzung und Massenarbeitslosigkeit haben seither Stellenwert und Klassencharaktere von ›F‹ und Arbeitsamkeit weitgehend verändert.

Die Doppeldeutigkeit von ›faul‹, verwandt mit engl. foul, zeigt sich an den dazugehörenden Substantiven ›Fäulnis‹ und ›F‹. In dem Vorwurf der ›F‹ überlagern sich vorbürgerlich-christliche (Trägheit des Herzens) mit bürgerlichen (Verweigerung des allgemein geforderten ›Fleißes‹, lat. industria) Unwertvorstellungen: »Müßiggang ist aller Laster Anfang«, lautet das in vielen Sprachen präsente Sprichwort, dessen Dialektik Brecht in der ersten Station der Sieben Todsünden der Kleinbürger entfaltet (…). »Die Müßiggänger schiebt beiseite«, heißt es aber auch in der Internationale. Was als ›Müßiggang‹ oder vulgo ›F‹ gilt und wie es bewertet wird, ist gesellschaftlich vielfach umkämpft.

Arbeit, Arbeiterkultur, Arbeitserziehung, Arbeitslosigkeit, Arbeitszeitverkürzung, Bedürfnis, bestimmte Negation, Dialektik, disponible Zeit, Disziplin, Entfremdung, Erfahrung, Fabrik, Flaneur, Fourierismus, Freiheit, Freizeit, Geiz, Genuss, Glück, Hedonismus, Industriegesellschaft, Kalvinismus, Kommodifizierung, Lassalleanismus, Leistung, Pauper, Praxis, Produktivismus, Rationalität, Schlaraffenland, Selbstverwirklichung, Utopie, Vernunft, Zwang, zweite Natur

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