Futurismus
A: mustaqbilīya. – E: futurism. – F: futurisme. – R: futurizm. – S: futurismo. – C: weilai zhuyi
Verena Krieger
HKWM 4, 1999, Spalten 1173-1192
Der F entsteht zu Beginn des 20. Jh. als Reaktion auf die technologische und ökonomische Modernisierung und die daraus resultierenden, vor allem in den Großstädten einschneidenden Veränderungen des Lebensalltags. Er ist die erste künstlerische Bewegung, die Aspekte der ökonomischen Basis moderner Gesellschaft thematisiert und die bürgerliche Konzeption der Autonomie von Kunst infrage stellt. Das futuristische Gegenkonzept zielt auf eine umfassende Neukonstitution der gesamten Gesellschaft, bei der alle ihre Bereiche – Politik, Mode, Verhaltensweisen, Städtebau, Verkehr, Werbung etc. – mit dem Ziel einer Aufhebung der Trennung von Kunst und Leben verändert werden. Mit diesem universellen zukunftsgerichteten Anspruch steht der F im Kontext von politischen und kulturellen Erneuerungsprojekten unterschiedlichster sozialer Kräfte (Arbeiterbewegung, Jugendbewegung etc.) bzw. einer nachholenden kulturellen Modernisierung.
Spezifisch für den F in der Prägung durch seinen Begründer Filippo Tommaso Marinetti sind die ungebrochen affirmative Bezugnahme auf die Maschine und modernisierte Lebens- und Wahrnehmungsweisen sowie die entschiedene Ablehnung jeglichen positiven Bezugs auf die kulturelle Tradition, die als »Passatismus« diskreditiert wird (von it. passato, Vergangenheit). Eine Konsequenz ist dabei die Einführung neuer Techniken (Fotografie, Film) und die theoretische Betonung der technischen Seite von Kunst. Damit trägt der F zur Schaffung der Voraussetzungen für massenmediale und industrielle Gebrauchsästhetik sowie kapitalistische Warenästhetik bei. Seine Aufhebung des Autonomiecharakters der Kunst findet also in zwei gegenläufigen Richtungen statt: zum einen, wie die Idee einer »artecrazia« (Kunstherrschaft) signalisiert, als Übergriff der Kunst auf die anderen Bereiche der Gesellschaft, zum anderen als Nutzbarmachung moderner künstlerischer Techniken und Stile für die Massenkultur. Diese Widersprüchlichkeit setzt sich in der gesellschaftspolitischen Haltung des F fort. Während er in Italien den Faschismus mitvorbereitet und diesem ein modernes ästhetisches Instrumentarium liefert, sucht er in Russland nach der Oktoberrevolution die neu entwickelten ästhetischen Verfahren mit einer aufklärerisch-emanzipatorischen Funktion zu verbinden, bevor er im Zuge der Stalinisierung zunehmend abgeschwächt modernistische Verfahren in den Dienst der staatlichen Propaganda stellt.
Der politische Charakter des F bewirkt in der bürgerlichen und marxistischen Rezeption gleichermaßen Irritationen. In beiden Lagern existiert sowohl eine Tendenz, zwischen »fortschrittlicher« Ästhetik und reaktionärer Weltanschauung zu trennen, als auch die, sie als kohärente Einheit zu behandeln. Bürgerliche Kunsthistoriker tendieren überwiegend dazu, im Sinne der ersten Tendenz die faschistische Ausrichtung des italienischen F zu leugnen oder zu relativieren (Haftmann 1962; Crispolti 1961) oder seiner Ästhetik ein »geheimes umstürzlerisches Potential« gegenüber Diktaturen zuzuschreiben (Argan 1990). Die Einheit von Ästhetik und Politik betont demgegenüber Boris Groys (1988), der den russischen Futuristen totalitäre Züge zuschreibt und diese weniger als Opfer denn als Vorbereiter der stalinistischen Kultur sieht. Parallel argumentiert von marxistischer Seite in Bezug auf den italienischen F Manfred Hinz (1985), der in dessen revolutionärer Geste eine antihistorische Geschichtsphilosophie erkennt und daraus eine Konvergenz des avantgardistischen und revolutionären Impetus des F mit dem Faschismus ableitet.
Vor aller Kunstgeschichtsschreibung ist der F Diskussionsanstoß für zeitgenössische marxistische Theoretiker. Aufgrund seines politisch widersprüchlichen Charakters entstehen kontroverse Beurteilungen, die von der Einschätzung als potentieller Bündnispartner (Gramsci 1921) bis zu der Auffassung reichen, dass die futuristische Kriegstreiberei die radikalisierte Konsequenz des bürgerlichen Ästhetizismus darstelle (Benjamin 1936), und von seiner vorsichtigen Akzeptanz als zwar bürgerliche, doch fortschrittliche Kraft (Trotzki 1923) bis hin zu seiner Bewertung als historisch folgerichtige Einheit von Dekadenz und Reaktion (Lukács 1938). Diese widersprüchlichen Bewertungen sind zum einen vor dem Hintergrund der historischen Entwicklung zu sehen – zunächst steht beim italienischen F die revolutionäre Rhetorik im Vordergrund, später tritt er in den Dienst des faschistischen Regimes – zum anderen gehen sie darauf zurück, dass die futuristischen Bewegungen in Italien und Russland stark differieren und die Autoren meist nur eine der beiden Spielarten kennen bzw. ihrer Beurteilung zugrundelegen. So bezieht sich Leo Trotzki auf die russischen Futuristen, Walter Benjamin ebenso wie Antonio Gramsci nur auf die Bewegung in Italien, obwohl Benjamin 1926/27 in Moskau die zeitgenössische Avantgardeszene kennenlernt und deren Nutzbarmachung der neuen Formtendenzen für den Sowjetstaat konstatiert (…). Generell wird die marxistische Auseinandersetzung mit dem F zu keinem Zeitpunkt sehr intensiv betrieben, ist also an Umfang und Bedeutung nicht vergleichbar mit den zeitgleichen Debatten über Expressionismus und Formalismus, in denen die Relevanz und Berechtigung avantgardistischer Ästhetik grundsätzlich thematisiert wird. Jedoch steht sie im unmittelbaren Kontext dieser Debatten in dem Sinne, dass die hier formulierten Positionen generell auf den F zu beziehen sind und dies – zumal in Russland – auch so intendiert ist.
➫ Abbild, Architektur, Ästhetik, Autonomie der Kunst, Avantgarde, Bild, bildende Kunst, Chauvinismus, episches Theater, Erbe, Erfahrung, Expressionismus-Debatte, Faschismus, Fiktion, Film, Fordismus, Formalismus (russischer), Formalismus-Kampagnen, Fotomontage, Kultur, Kunstverhältnisse, Maschinerie, Massenbewegung/Massenorganisation, Materialästhetik, Moderne, Modernisierung, Montage, Nihilismus, Oktoberrevolution, politische Ästhetik, Popularkunst, Proletkult, Realismus, Russische Revolution, sozialistischer Realismus, Sprache, Strukturalismus, Surrealismus, technischer Fortschritt, Text, Theater, Unterhaltung, Utopie, Verfremdung, Volkskultur im Kapitalismus, Zerstörung, Zukunft