Lehrstück

A: dars. – E: didactic play. - F: pièce (de théâtre) didactique. - R: urok. – S: pieza (de teatro) didáctica. - C: jiaoyujuben/jiaoyuxiju 教育剧本,教育戏剧

Robert Cohen

HKWM 8/I, 2012, Spalten 886-903

Das L vermittelt keine Lehre, auch keine kommunistische. Das gilt auch angesichts der Tatsache, dass sich Bertolt Brecht, die für das L zentrale Künstlerpersönlichkeit, Ende der 1920er Jahre marxistischen und kommunistischen Positionen annäherte. Das L steht weder für Indoktrination noch für Schulmeisterei, und es bietet Rezepte für politisches Handeln nur unter Vorbehalten. Der Begriff muss zuerst von den Ablagerungen des Kalten Kriegs gereinigt werden. Freizulegen ist ein Konzept, das Brecht 1931, auf dem Höhepunkt seiner sogenannten L-Periode formulierte: »Der Lernende ist wichtiger als die Lehre.« (GA 21) Ein »bestimmtes eingreifendes Verhalten« sollte eingeübt werden (GA 3). Das wird 1937/1938 noch einmal präzisiert: »Es liegt dem Lehrstück die Erwartung zugrund, dass der Spielende durch die Durchführung bestimmter Handlungsweisen, Einnahme bestimmter Haltungen, Wiedergabe bestimmter Reden usw. gesellschaftlich beeinflusst werden kann.« (GA 22.1) Von der dogmatischen Enge, die dem L später zugeschrieben wurde, sind solche Anweisungen weit entfernt.

L bezeichnet einen ursprünglich musikalischen Gemeinschaftsspieltypus, der Ende der 1920er Jahre, in enger Zusammenarbeit zwischen Brecht und den Komponisten Paul Hindemith, Kurt Weill und Hanns Eisler, im Umfeld der Neuen Musik und der Musiktage in Donaueschingen, Baden-Baden und Berlin entwickelt wurde. Zu den mit dem Namen Brechts verbundenen L.en, meist kürzeren Textvorlagen in dramatischer Form, gehören die verschiedenen Fassungen eines Spiels um den Atlantiküberquerer Charles Lindbergh; die Fassungen eines Gegenentwurfs, unter den Titeln Lehrstück und Das Badener Lehrstück vom Einverständnis; die Fassungen eines alten japanischen Nô-Spiels unter dem Titel Der Jasager sowie des komplementären Der Neinsager; die konkretisierende Bearbeitung desselben Materials unter dem Titel Die Maßnahme; und Die Ausnahme und die Regel.

Mit der Machtübergabe an die Nazis und der Zerschlagung der Arbeiterbewegung und ihrer kulturellen Organisationen, war den L.en die gesellschaftliche Grundlage entzogen. Im Exil entstand nur noch ein L, Die Horatier und die Kuratier. Brechts Interesse an diesem Spieltypus hielt jedoch an; noch wenige Tage vor seinem Tod soll er Die Maßnahme als Form des Theaters der Zukunft bezeichnet haben (vgl. Wekwerth 1976).

Im Kalten Krieg wurde Die Maßnahme, stellvertretend für die L.e im Westen und besonders in der Bundesrepublik, zum Emblem einer angeblichen Apologie des Stalinismus. In der DDR-Forschung dagegen wurde das Werk wegen seiner angeblich falschen Anleitung zu revolutionärem Handeln kritisiert, die L-Periode auf eine Übergangsphase zwischen dem Frühwerk und den großen Stücken, zwischen dem bürgerlichen und dem marxistischen Brecht reduziert. Da ein produktiver Umgang mit der Maßnahme nicht zu erwarten war, verbot Brecht Aufführungen des Stücks (vgl. GA 30; es gab weiterhin nichtöffentliche, z.B. studentische Aufführungen). Zu Beginn der 1970er Jahre lieferte Reiner Steinweg mit einer systematisierenden Rekonstruktion von Brechts Theorie der Diskussion um die L.e ein kohärentes Fundament. Es wurde zu Beginn der 1990er Jahre von Klaus-Dieter Krabiel emphatisch in Frage gestellt. Krabiel rekonstruierte die L-Periode in ihrem entstehungsgeschichtlichen Kontext. Damit rückte der Aspekt der L.e als avantgardistische Musikwerke und die Bedeutung der Komponisten für die Entwicklung des Spieltypus ins Zentrum; der Zweck des Einübens von politischem Bewusstsein und Verhalten wurde sekundär. Durch eine internationale Konferenz 1998 wurde Die Maßnahme – und damit die L.e insgesamt – als eine der großen innovativen Leistungen Brechts kanonisiert (vgl. Gellert/Koch/Vassen 1999). In den Bänden des Brecht-Handbuchs stammen die Beiträge zum L fast ausschließlich von Krabiel, dessen Positionen sich zu Beginn des 21. Jh. vorerst durchgesetzt haben.

Antiideologie, Ästhetik, Autonomie der Kunst, Brecht-Linie, dialektisches Theater, eingreifendes Denken, eingreifende Sozialforschung, Engagement, episches Theater, Erfahrung, Erinnerungsarbeit, Erkenntnis, Individuum, Kollektiv/Gruppe, Kommunismus, Kulinarisches, Lernen, Literaturverhältnisse, Materialästhetik, Neuer Mensch, philosophisches Volkstheater, politische Kunst, Praxis, Selbstveränderung, sozialistische Moral, Subjekt, Theater

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