Latifundismus

A: lātīfūndīya. – E: latifundism. – F: latifundisme. - R: latifundizm. – S: latifundismo. - C: dazhuangyuanzhi 大庄园制

Theodor Bergmann (I.), Urs Müller-Plantenberg (II.)

HKWM 8/I, 2012, Spalten 735-745

I. Der Begriff L stammt aus der römischen Geschichte und bezeichnete den Großgrundbesitz in Italien und fernen Provinzen, der zwar Rom mit Getreide versorgen sollte, aber v. a. den Besitzern ein materiell sorgloses Leben in Rom und Teilhabe an der politischen Macht ermöglichte. Die Agrarproduktion auf den Besitzungen wurde von römischen Aufsehern mit Sklaven betrieben. Die Eigentümer waren also absentee landlords, die nur bei besonderen Anlässen ihre Besitzungen aufsuchten. Diese Sozialstruktur hat zum Niedergang des römischen Reiches beigetragen. Später, bis ins 19. Jh., stand L schlechthin für allen Großgrundbesitz, charakterisiert durch extensive Bewirtschaftung großer Flächen, Ausschluss der wirklichen Produzenten vom Landbesitz, geringe Investitionen, hohen Konsum der Eigentümer (conspicuous consumption), Abhängigkeit der Gutsarbeiter bis zu Hörigkeit und Leibeigenschaft, lokale ökonomische und politische Macht der Gutsbesitzer, die auch formal oberste Amtsbehörde waren. Zu dieser Macht gehörten zahlreiche Privilegien, die dem Herrn sowohl die Verfügung über die unentgeltliche Arbeitskraft mittels Frondiensten aller Art wie über die »Person des Bauern, über die seiner Frau und seiner Töchter« sicherten (Engels, Bauernkrieg, 7/340).

II. Latifundium und L sind insofern historische Begriffe, als sie mit dem Wandel der Sache, die sie in verschiedenen historischen Epochen bezeichnen, einen Bedeutungswandel durchmachen. Was in Lateinamerika als das alte Latifundium bezeichnet wird, hatte zwar noch gewisse Charakteristika des antiken, unterschied sich aber doch wesentlich von ihm; es wurde mit der Zeit durch das traditionelle Latifundium abgelöst, welches wiederum im 20. Jh. den vielfältigen Formen des modernen Latifundiums weichen musste. […]

Mit dem Begriff des L wurde und wird in Lateinamerika in der Regel zum einen die in weiten Gebieten vorherrschende Bodenkonzentration in der Hand weniger Großgrundbesitzer oder Latifundisten, zum anderen die Absicht und die Fähigkeit der Latifundisten bezeichnet, die eigene ökonomische Macht durch Einfluss auf die politische Macht im ländlichen Raum, aber auch in der Gesamtgesellschaft, abzusichern und zu stärken. Der L hat in der Geschichte Lateinamerikas seit der Eroberung durch die Spanier und Portugiesen am Ende des 15. Jh. in den verschiedenen Gebieten des Subkontinents sehr verschiedene Formen angenommen und unterschiedlich viel politische Stärke gezeigt. Die kritischen Historiker sind sich aber darüber einig, dass er die ökonomische und politische Geschichte nicht nur des Agrarbereichs wesentlich geprägt hat.

Gemessen an der antiken Form des Latifundiums wird der Begriff des lateinamerikanischen latifundio wesentlich breiter und weniger präzise gebraucht. Maßgeblich ist nicht mehr die Bewirtschaftung der ausgedehnten Ländereien durch Sklaven, sondern als Latifundisten werden alle privaten Großgrundbesitzer bezeichnet, in welcher Weise sie auch immer ihre Böden und Arbeitskräfte ausbeuten. Plantagen, die v.a. Exportprodukte wie Zucker, Kaffee, Bananen usw. produzieren und bis zum 19. Jh. weitgehend durch aus Afrika herbeigeschaffte Sklaven bewirtschaftet wurden, gehören ebenso zu den Latifundien wie die für den lateinamerikanischen Feudalismus typischen Haziendas mit ihren vielfältigen Formen der – meist knechtischenArbeitsbeziehungen.

Agrarfrage, Agrarreform, Agrobusiness, Bauern, Bodenreform, Dependenztheorie, Entkolonisierung, Entwicklungsländer, Feudalismus, Grundeigentum, Indiofrage, Kazikentum, Kleinbauern, Knechtschaft, koloniale Produktionsweise, Kolonialismus, Kubanische Revolution, Landlosenbewegung, Mexikanische Revolution, multinationale Konzerne, Sandinismus, Sklaverei/Sklavenhaltergesellschaft, Stadt/Land, Unterentwicklung, Zapatismus

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l/latifundismus.txt · Zuletzt geändert: 2024/02/28 21:09 von christian     Nach oben
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