Literaturkritik
A: naqd al-’adabī. – E: literary criticism. – F: critique littéraire. – R: literaturnaja kritika. – S: crítica literaria. – C: wénxué pīpíng 文学批评
Peter Jehle
HKWM 8/II, 2015, Spalten 1229-1251
Vor aller professionellen Spezialisierung ist L eine Praxis der Leserinnen und Leser. Wer liest, kritisiert – indem das Buch ›verschlungen‹ oder weggelegt, Briefe an den Verlag gerichtet oder Meinungen im Internet ausgestreut werden. Gelesen wird immer etwas Bestimmtes, das die Dummheit vergrößern, die Anpassung fördern oder aber den Zorn anstacheln und das Bewusstsein schärfen kann. Lesen und Kritisieren haben eine gruppenbildende Funktion. Keine revolutionäre Praxis, die nicht auch eine ›literarische‹ war und im Medium des Flugblatts, der Zeitungen, Zeitschriften oder des Buchs betrieben wurde. Wo eine so ungeheure Zahl von Objekten sich drängelt, muss jenem die Aufmerksamkeit entzogen, diesem zugewandt werden. »Was immer man mir vorwerfen mag«, bemerkt Marcel Reich-Ranicki, »die Unlust, ›ja‹ oder ›nein‹ zu sagen, gehört wohl nicht dazu.« (1999, 436)
Der Kritiker ist, heißt es bei Benjamin, »Stratege im Literaturkampf« (GS IV.1, 108). Wie bei anderen Waren gilt für die literarische, dass sich erst im nachhinein herausstellt, ob sie Käufer findet. Seit Produzenten und Konsumenten durch keine ästhetische Wertordnung mehr aneinander gebunden und, um zueinander zu kommen, auf die Vermittlung des Marktes angewiesen sind, existiert der Rang eines Werkes nicht unabhängig von dem Gerangel, das auf diesem Feld stattfindet. Wie die Verleger, Autoren und Kritiker die Antagonismen gestalten, in die sie gestellt sind, liegt nicht fest. Dass ein Autor seinem Kritiker den – möglichst qualvollen – Tod wünscht oder ihm aufrichtig dankbar ist, zeigt, dass einiges auf dem Spiel steht. Ein Ruf kann ruiniert werden, eine Fehlinvestition den Konkurs provozieren.
Keine »ernsthafte« Beschäftigung mit Literatur, bemerkt Reich-Ranicki, die nicht kritisiert, d.h. unterscheidet, prüft, analysiert, wertet, beurteilt (1970/2008, 16f). Sie hat eine der Sicherung des Gebrauchswerts der Literatur dienende Funktion. Literatur wird hier so wichtig genommen wie das tägliche Brot. Wie die Verbraucher durch eine der Qualitätssicherung der Nahrungsmittel verpflichtete Instanz geschützt oder zumindest auf Gefahren aufmerksam gemacht werden müssen, so die Lesenden, die ein Gedicht, eine Erzählung oder einen Roman zu sich nehmen. Das Was und Wie des Lesens entscheidet mit über die von Gramsci gestellte Grundfrage, ob man »Führer seiner selbst« sein oder »der eigenen Persönlichkeit von außen den Stempel aufdrücken« lassen will (Gef, H. 11, §12, 1375). Indem Walter Jens darauf aufmerksam macht, dass auch die Texte der Evangelisten in ihrem »literarischen Charakter ernst zu nehmen« sind (1975/1979, 33), bereichert er ihre Lektüre um ein Verständnis für das hier stattfindende »Wechselspiel von Realismus und Stilisierung, von brutaler Wirklichkeit und Abstraktion« (36). Bei den »berufsmäßigen Kritikern«, die abhängig vom kapitalistischen Verlags- und Pressewesen agieren, koexistiert »Einsicht in die Sache« mit der gesellschaftlichen Position, die sie zum »Agenten des Verkehrs« macht, »im Einverständnis wo nicht mit dessen einzelnen Produkten so doch mit der Sphäre als solcher« (Adorno 1951, 12).
Der Modus der Kritik, den der »Aufbau des Neuen« nach 1945 verlangt, ist für Brecht der »konstruktive« (GA 23, 138). Der Gegensatz von Kritiker und Publikum relativiert sich, wenn »das Publikum selber zum geistigen Produzieren, Entdecken, Erfahren gebracht wird« (135). Wie es eine Schauspielkunst gibt, so eine »Zuschaukunst« (191). Wie muss eine Kunst aussehen, welche »die Fähigkeit des kritischen Genießens« (GA 22.1, 226) zugleich hervorbringt und verlangt? Es bedurfte der Aufbruchsbewegung der 68er, um dieser Fähigkeit auch im Westen Geltung zu verschaffen. Mit der Tradition der »zelebrierten Kunstbeurteilung« ist es erst vorbei, wenn dem »Publikum die kritische und die genießende Haltung nicht mehr auseinanderfällt« (Baumgart 1968, 44).
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