Lesbenbewegung

A: ḥaraka as-suḥāqīyāt. – E: lesbian movement. - F: mouvement lesbien. – R: lesbijskoe dviženie. - S: movimiento lesbiano. – C: nütongyundong 女同运动

Sarah Schulman (EL) (I.), Tucker Pamella Farley (VRD) (II.), Christiane Leidinger (III.)

HKWM 8/I, 2012, Spalten 979-999

I. Da die Geschichte des Lesbianismus sich allenfalls erahnen lässt, ist sie eine Art Mythos, mal gemeinschaftlich aufgearbeitet, ein andermal und anderswo heimlich bewahrt in den Herzen der Einzelnen. Wenn wir sie uns vorstellen, denken wir an die einsame Rebellion einer Frau, die die Ehe verweigert, an zwei, die zusammenleben oder eine Revolution in der Kunst ins Leben rufen, an drei, die zum Wohle aller politische Bewegungen vorantreiben, an Pionierinnen, an Gefangene, an Durchgedrehte und Heldinnen und solche, die beides waren. An banales und magisches Denken, an revolutionäre Erfolge, an Zukunftsvisionen und ständiges An-den-Rand-gedrängt-Werden, dabei zwischen die Zeilen verwiesen, in den Papierkorb geworfen, in die Psychiatrie, in die Reihen der Betörten und der Enttäuschten, in die Armut und in den Reichtum der Gefühle. Angetrieben von einem unzähmbaren Verlangen, das sich auf jedem Kampfplatz des Lebens Ausdruck verschafft, haben wir viel erreicht und auch versagt, wurden wir lächerlich gemacht, umschwärmt, verleugnet und verlangt. Manchmal verändern wir die Welt, manchmal verändert die Welt uns. Aber so lange Leidenschaft den Weg weist, kann das Ergebnis niemals feststehen oder das Ziel ganz erreicht sein. Was bleibt, ist die Lesbe, und ihre Zukunft entzieht sich jeder Vorhersage.

II. […] Eine L gibt es seit den späten 1960er Jahren, entstanden im Umfeld der Frauen- und anderen Neuen Sozialen Bewegungen v.a. in Industrieländern. Ihr Aufstand gegen die Männerdominanz in der Linken und ihre Forderungen nach Teilhabe an Freiheit, Gleichheit und Unabhängigkeit waren eingelassen in den Kampf frauenliebender Frauen gegen Patriarchat, Kapitalismus, Rassismus und Imperialismus in Vietnam und andere nationale Befreiungskämpfe. Poesie, Kunst, Musik, Theater, Tanz, Literatur, Medien und politischer Aktivismus schossen zusammen, verflochten das Kulturelle und das Politische in einer Weise, die zum Markenzeichen von L wurde. Die lesbische Revolution war ebenso kulturell wie politisch und machte Lesben fortan sichtbar. In Gloria E. Anzaldúas Worten war das Ziel El Mundo Zurdo (1981), eine linkshändige Welt, in der niemand Stücke von sich abhacken muss, um hineinzupassen: ihr sozialistischer Teil konnte die heilenden Hände ihrer Großmutter nicht wegdrücken; der Chiacano-Teil nicht den feministischen stillstellen; keiner konnte den lesbischen Teil ersticken. All diese Bewegungen lebten in ihr, waren lebendig und arbeiteten zusammen für eine neue Welt. In den 1970er Jahren wurden überall literarische Gestalten ins Leben gerufen und Gruppen gebildet, um eine andere Gemeinschaft und Kultur, eine neue Familie und neues ökonomisches Leben zu schaffen als das Werk der ›gemeinen Frau‹. Bands wie die Flying Lesbians mit ihrem schamlosen Lied Wir sind die homosexuellen Frauen (1975) waren Wegbereiter einer Bewegung von Frauenmusik in einer kurzen Festzeit, als Frauen und Lesben einander in den Bewegungen vertreten konnten.

Dass Frauen, die Frauen lieben und begehren, öffentlich auftraten und sprachen, war der bis dahin radikalste Bruch mit patriarchalen Vorstellungen von weiblicher Sexualität. Die Frauenbewegung hatte die ›normale‹ Verfügungsmacht von Männern über Frauenkörper zum Politikum gemacht. Die L forderte darüber hinaus sexuelle Selbstbestimmung von Lesben. Dies wurde zum Streitpunkt auch unter Frauen. Lesbianismus als politische Haltung und nicht nur als sexuelle Orientierung sowie respektlose und separatistische kulturelle Praxen belebten die feministische Frauenbewegung, gerieten mit ihr in Widerstreit, forderten frauenpolitische Bewegungsprozesse heraus und provozierten Spaltungen. Die L selbst war nie einheitlich: ihre Politik schillerte zwischen bürgerlicher Normalisierung und einem gelebten Bruch mit Konformismus und Ausgrenzung. Die soziale Anerkennung von Lesben in ›westlich‹ geprägten (post-)modernen städtischen Arbeits- und Lebensweisen wurde durchaus normal, und die meisten Lesben trachten seit dem Ende der ›Bewegungszeit‹ nach einer bürgerlichen Arbeits- und Lebensweise. Der politische Diskurs um sexuelle Selbstbestimmung von Frauen jenseits der bürgerlichen, heterosexuellen Familie oder Partnerschaft spricht jedoch auch im 21. Jh. von Verdrängung, Ausgrenzung und Gewalt. So war und ist die L immer auch ein Ort der Auseinandersetzung um die ›Befreiung‹ des Frau-Seins und weiblichen Begehrens.

III. L in der BRD. – Der Forschungsstand ist lückenhaft. Das liegt nicht nur an der schlechten Quellenlage v.a. für die ältere Geschichte: Weder die Rekonstruktion ›der‹ Historie lesbischer Frauen noch die von Lesbenpolitik und L.en ist im deutschsprachigen Raum ein an Hochschulen institutionell abgesichertes und entsprechend ausgestattetes Wissenschaftsfeld. In der Frauen-/Bewegungsforschung sowie der Gender-Forschung werden darüber hinaus Lesben nicht selten in Aufzählungen abgehakt oder in Fußnoten verbannt, auf den sog. Lesben-Hetera-Konflikt reduziert oder gar völlig ignoriert. Das Verhältnis von Frauenbewegung und L in der BRD ist bewegungstheoretisch und -empirisch noch wenig ausgelotet: Aufgrund der gemeinsamen Basis feministischer Selbstverständnisse liegt es allerdings nahe, Lesben als Akteurinnen zu verstehen, die in der »Autonomen Frauenbewegung unterschiedliche Organisationsformen« entwickelten (Münst 1998), oder die L im Sinne eines »lesbischen Feminismus« implizit als Teil (Hark 1996b) bzw. explizit als »Teilbewegung« der Frauenbewegung zu begreifen (Leidinger 1999; Dennert u.a. 2007).

Anerkennung, Emanzipation, Eros, Familie, Feminismus, Frauenbewegung, freie Liebe, Geschlecht, Geschlechterverhältnisse, Heteronormativität, HIV/AIDS, Homosexualität, Identität, Identitätspolitik, Kampagne, Lebensführung,Lebensweise/Lebensbedingungen, Liebe, Lila, Männlichkeit, Neoliberalismus, Neue Soziale Bewegungen, Normalisierung, Normen, Patriarchat, Pornographie, Poststrukturalismus, Psychoanalyse, Queer-Theorie, Rasse/Klasse/Geschlecht, Rassismus, Repräsentation, Schwulenbewegung, Sexismus, Sexpol, Sexualität, sexuelle Befreiung, Subjekt, Subkultur, subversiv, symbolische Ordnung

artikel_per_email.jpg

 
InkriT Spende/Donate     Kontakt und Impressum: Berliner Institut für kritische Theorie e.V., c/o Tuguntke, Rotdornweg 7, 12205 Berlin
l/lesbenbewegung.txt · Zuletzt geändert: 2024/02/24 23:27 von christian     Nach oben
Recent changes RSS feed Powered by PHP Valid XHTML 1.0 Valid CSS Driven by DokuWiki Design by Chirripó