Gestus

A: al-īmā’, al-išāra. – E: gesture. – F: geste. – R: žest. – S: gesto. – C: zishi, yitai 姿势, 仪态

Marc Silberman

HKWM 5, 2001, Spalten 659-669

G zählt neben Verfremdung und Haltung zu den Hauptbegriffen in Bertolt Brechts Theorie des epischen bzw. dialektischen Theaters, die direkt bei der Aufführungspraxis ansetzen. Die Vorführung des G, einer typisierten Verhaltensform, ermöglicht es, Vorgänge, die bislang als innerlich begriffen wurden, nach außen zu wenden und damit theatertechnisch wie sozialanalytisch verfügbar zu machen. Dieses Verfahren setzt Theaterereignis und Gesellschaft in Beziehung, indem es hinter beobachteten Vorgängen die strukturell bestimmten Ursachen andeutet. Am präzisesten lässt sich die Vorführung eines G als Zeigen der »Beziehungen von Menschen zueinander« verstehen (…). Von der Haltung, die, gleichfalls das sogenannte Innere nach Außen tragend, feste Dispositionen betrifft, unterscheidet sich der G dadurch, dass er gesellschaftliche Verhältnisse in Bewegung zeigt. Der gleichfalls benachbarte Begriff der Verfremdung bezeichnet einerseits den Effekt der gestischen Stilisierung und andererseits die Voraussetzung für die soziologische Einsicht, auf die der Einsatz des G zielt.

Theatertheoretische Überlegungen finden sich bei Brecht vor allem in den Jahren 1929 bis 1932, als er im Rahmen seiner Lehrstückpraxis radikale Antworten auf das bürgerliche Theater suchte, und wieder 1935 bis 1948 im Exil, als er die begrenzten Möglichkeiten einer bühnenpraktischen Arbeit mit theorisierenden Überlegungen kompensieren konnte. Da Brecht sich vornehmlich auf eigene Erfahrungen bezog, verwandelten sich seine Begriffe der Praxis entsprechend, d.h. unter historischen Bedingungen und auf historische Bedingungen reagierend. Insofern ist es schwierig, eine feste, stimmige Definition für sie im Nachhinein zu abstrahieren. Gerade der Begriff des G, der nach Elisabeth Hauptmanns Tagebucheintragung vom 23.3.1926 wohl schon im Rahmen von Brechts Überlegungen zu dem Stück Mann ist Mann mündlich verwendet wurde (…), oder allgemeiner »das sogenannte gestische Prinzip« (…), ist nicht so systematisch ausgearbeitet wie etwa der später ausformulierte Begriff der Verfremdung. Zuerst aufgegriffen in der Unterscheidung zwischen der alltagssprachlichen Verwendung von Geste und G, blieb Brecht eine klare terminologische Neufassung des Begriffs für seine Theorie des epischen Theaters schuldig. Gewonnen aus der dialektischen Theaterpraxis um 1930 (…), hat er ihn jedoch zuerst in einem anderen Kontext als übergreifende Kategorie der Kunst und der Sprache ausführlich erörtert, und zwar im grundlegenden Aufsatz Über reimlose Lyrik mit unregelmäßigen Rhythmen (…). Allmählich wurde »G« die Grundlage für eine bald polemische, bald pragmatische Reflexion über das Theater, und Brecht selber benutzte ihn so inflationär, dass das Gestische – als Teil seiner theoretischen Auseinandersetzung mit der offenen Form des nicht mimetischen Realismus – für seine ganze Bühnenpraxis stehen könnte. Trotzdem interessieren sich Theaterhistoriker und -praktiker gerade für diesen Begriff des brechtschen Theaters, vermutlich weil die sonstige Kommunikation über das Theater ein recht beschränktes Instrumentarium an theatereigenen Begriffen aufweist. In diesem Zusammenhang scheint G ein flexibel einsetzbares Wort für die komplexe Zusammenführung von theatralischen Mitteln und gesellschaftlichem Anspruch zu sein.

ästhetische Theorie, Ausdruck, Avantgarde, Bewußtsein, Brecht-Linie, Dialektik, dialektisches Bild, dialektisches Theater, Einfühlung, eingreifendes Denken, episches Theater, Expressionismus-Debatte, Faustus-Debatte, Formalismus-Kampagnen, Gewohnheit, Habitus, Haltung, Handlung, Individuum, Innenwelt/Außenwelt, Katharsis, Körper, Kritik, Lehrstück, Menschenbild, Praxis, Realismus, Selbstveränderung, Standpunkt/Perspektive, Theater der Unterdrückten, umfunktionieren, Verfremdung, Verhalten, Verhältnis

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