nationale Bourgeoisie
A: būrǧuwāzīya waṭanīya. – E: national bourgeoisie. – F: bourgeoisie nationale. – R: nacional’naja buržuazija. – S: burguesía nacional. – C: mínzú zīchǎn jiējí 民族资产阶级
Bernd Röttger
HKWM 9/II, 2024, Spalten 1864-1881
»Jedem seine nB, nicht wahr!« – so polemisiert Nicos Poulantzas (1975, 69) gegen wirtschaftspolitische Konzeptionen des 20. Jh., in denen Fraktionen der nationalen Kapitale zu Bündnispartnern sozialistischer Bewegungen erhoben werden. Marx und Engels schreiben der aufstrebenden, noch weitgehend national organisierten Bourgeoisie des 18. und 19. Jh. hingegen noch »eine höchst revolutionäre Rolle« zu, da sie, »wo sie zur Herrschaft gekommen, […] alle feudalen, patriarchalischen, idyllischen Verhältnisse zerstört« hat (Manifest, 4/464). Indem ihre geschäftlichen Interessen sie »über die ganze Erdkugel« jagen (465), stellt sie zugleich »den Weltmarkt« her (463). In K I führt Marx vor, wie durch ihren Aufstieg alle anderen Produktionsweisen »hineingezogen werden in einen durch die kapitalistische Produktionsweise beherrschten Weltmarkt«, der ihnen seine Gesetze »aufpfropft« (23/250). Die Weltmarkttendenz des Kapitals – d.h. seine »Tendenz, den Weltmarkt zu schaffen«, die »unmittelbar im Begriff des Kapitals selbst gegeben« ist (Gr, 42/321) – unterhöhlt realiter die autonome Konstitution nachfolgend aufstrebender nB.n und erzwingt »kosmopolitische« Verhältnisse (4/466). Antonio Gramsci spricht vom Bürgertum als einer »›konkret weltumfassenden‹ Klasse« (Gef, H. 10.II, §9, 1262).
Seit Beginn des 20. Jh. wird in marxistischen Debatten darüber gestritten, ob es sich bei nB.n um Realitäten kapitalistischer Klassengesellschaften handelt oder lediglich um »metaphysisches Denken«, um ein »erstarrtes Dogma« (Luxemburg, GW 2, 215). Gleichzeitig gewinnt der Terminus ›progressive nB‹ für nationale Arbeiter- und Befreiungsbewegungen an bündnisstrategischer Bedeutung. In den russischen Revolutionen von 1905 und 1917 entzünden sich erste theoretische Kontroversen über deren historische Rolle. Entkolonialisierung und Ansätze nationaler Demokratisierung und Industrialisierung in der weltwirtschaftlichen Peripherie nach 1945 sowie die wachsende Verflechtung der Kapitale zwischen den Zentren der Weltökonomie bringen eine empirische Desillusionierung. Poulantzas spricht von nB.n und ihrer vermeintlich progressiven Rolle nur noch als einem »Mythos«, der geschichtlich obsolet geworden sei (1975, 63). Die ungebrochene nationalstaatliche Fragmentierung der kapitalistischen Weltökonomie und ihre anhaltenden hierarchischen Dominanz- und Abhängigkeitsverhältnisse, somit die Doppelexistenz des Kapitals als nationalstaatlich gebundenes und als Weltmarktkapital, lassen Vorstellungen von nB.n jedoch in unterschiedlicher Form immer wieder aufleben. Sie nehmen als nationale Wirtschaftsstrategien bzw. nationalistische Bewegungen Gestalt an.
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