Hirnforschung

A: al-baḥt al-muta‛allīq bi-el-dimāġ. – E: brain research. – F: recherche sur le cerveau. – R: issledovanija mozga. – S: investigación del cerebro. – C: zhili yanjiu 智力研究

Michael Weingarten, Christof Ohm

HKWM 6/I, 2004, Spalten 266-276

Die 1990er Jahre proklamierte US-Präsident George Bush zum »Jahrzehnt des Gehirns«; H sollte die Therapie von Hirn-Erkrankungen vorantreiben (Alzheimer, Epilepsie, Schizophrenie, Autismus, Sprachstörungen, auch »Schaden, den Schwangere durch ihren Alkohol- und Drogenkonsum den Ungeborenen angetan haben«). Er schwieg freilich von Intelligenzstörung durch irreversible kindliche Hirnschäden als Folge chronischer Unterernährung, der in Südostasien 74% (in Indien 87%) aller Schwangeren ausgesetzt sind (Kumar 2000). Die Umsetzung der Proklamation erhielt durch herrschende Interessen offensichtlich eine Schieflage. Kaum gefördert wurde die Erforschung schwerer Geisteskrankheiten (Morris 2000); zu spät und erfolglos wurde zu klären versucht, wie BSE-Erreger ins menschliche Gehirn übertragen werden. Jedoch: »Weit weniger umstritten war in dieser Dekade der Fortschritt in der kognitiven Neurowissenschaft und im Neuroimaging« (…). Erstere hat einen Schwerpunkt in elektronischer Simulation neuronaler Netzwerke, letzteres sind bildgebende Verfahren (z.B. PET bzw. Positronen-Emissions-Tomographie), für die sich die medizintechnische und Elektronikindustrie interessieren. Staatlicher Förderung von H scheint es häufig weniger um die wissenschaftliche Aufklärung des strukturellen und funktionellen Aufbaus des Gehirns zu gehen als vielmehr um die Nutzung biologischer Erkenntnisse für die Weiterentwicklung technischer Systeme wie Computerarchitekturen, ›intelligenter‹ Maschinen, bildverarbeitender Systeme, Roboter – also Befruchtung von Ingenieurwissenschaften und Informatik mit biologischem Wissen und Förderung eines neuen interdisziplinären Gebietes: Journal of Neural Engineering heißt eine neue Zeitschrift, die »die Kluft zwischen Neuro- und Ingenieurwissenschaft überbrücken will« (Durand 2004).

Die einseitig technische Zwecksetzung führt oft zu einer naturalistischen Anthropologie, die den gesellschaftlich entwickelten kulturellen Reichtum an Handlungsmöglichkeiten auf natural gegebene Fähigkeiten reduziert, die dann als Maschinerie nachbaubar erscheinen. Dieser Reduktionismus, der als Wissenschaftlerideologie die Akteure ebenso beflügelt wie auch in die Sterilität führt, manifestiert unter den Bedingungen des High-Tech-Kapitalismus die Verquickung von Produktiv- und Destruktivkraftentwicklung. Bei vielen H-Projekten handelt es sich im Kern um Entwicklung der Automatisierungstechnologien des 21. Jh., wobei der Bau von Arbeitsmaschinerie, maschinellen Hilfen für Kranke (z.B. ›medizinische‹ Robotik) usw. mit dem Bau moderner ferngesteuerter Kriegsmaschinen verquickt ist. Gerade in der H und den ihr zuarbeitenden Hilfswissenschaften tarnt sich ein gefährliches ›dual use‹-Potenzial. Ein Neurowissenschaftler, dem es mit seiner Forschungsgruppe gelungen ist, ins Gehirn eines Makakenaffen einen Chip zu implantieren (das Tier steuert so die Bewegung eines Cursors auf einem Bildschirm), betrachtet mit einer gewissen Berechtigung »diese ›Hirn-Maschine-Schnittstelle‹ als erregenden ersten Schritt in Richtung der Entwicklung einer Technologie, die eines Tages gelähmten Menschen helfen kann, ihre Glieder wieder zu bewegen« (Lukas 2004). Das US-Verteidigungsministerium fördert sein Projekt mit 4,25 Millionen Dollar, aber, so der Forscher: »man sagt uns nicht genau, woran sie eigentlich interessiert sind« (…). – Weil H Hoffnungen weckt, die in Täuschungsmanövern und Selbsttäuschungen der forschenden Akteure virulent werden, ist es nützlich, die Unterschiede zwischen verschiedenen Strömungen und Zielsetzungen der H zu akzentuieren.

Abbild, Automation, Bewußtsein, Biologismus, Denken, Determinismus, Empirismus, Erkenntnis, Evolution, Experiment, Funktion, funktional-historische Analyse, Geist, Gentechnologie, gesund/krank, High-Tech-Industrie, hochtechnologische Produktionsweise, Information, Intelligenz, Kopf und Hand, Körper, Künstliche Intelligenz, Maschine, Metapher, Naturbeherrschung, Produktivkräfte, Repräsentation, Roboter, Seele, Sprache, System

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