Moskauer Prozesse

A: muḥākamāt mūskū. – E: Moscow Trials. – F: Procès de Moscou. – R: Moskovskie processy. – S: Procesos de Moscú. – C: Mòsīkē shěnpàn 莫斯科审判

Paola Lo Cascio (MS/RM)

HKWM 9/II, 2024, Spalten 1512-1531

»Die Revolution braucht dich nicht mehr / Sie braucht deinen Tod. Aber eh du nicht Ja sagst / Zu dem Nein, das über dich gesprochen ist / Hast du deine Arbeit nicht getan. / Vor den Gewehrläufen der Revolution, die deinen Tod braucht / Lern deine letzte Lektion. Deine letzte Lektion heißt: / Du, der an der Wand steht, bist dein Feind und unsrer.« (Heiner Müller, Mauser, 1970; 2001, 246)

Die MP bilden den Höhepunkt des langen und komplexen Vorgangs der weitgehenden Auslöschung aller politischen Dissidenz und Alternative, den Josef Stalin im Zuge der Konsolidierung seiner Macht als Generalsekretär des ZK und de facto oberster Führer der SU ab den späten 1920er Jahren vorantrieb. Dazu wurden vor dem Militärkollegium des Obersten Gerichts der SU 1936-38 drei Schauprozesse v.a. gegen ehemalige Führungsmitglieder der Bolschewiki inszeniert, die gemäß Art. 58 des Strafgesetzbuchs der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik u.a. der Verschwörung, Spionage und Diversionstätigkeit bezichtigt wurden.

Der erste Prozess (August 1936) gegen Lew B. Kamenew, Grigori J. Sinowjew und 14 weitere Personen, darunter ranghohe Parteifunktionäre, die des gemeinschaftlichen Mords am leningrader Parteisekretär Sergei M. Kirow im Dezember 1934 sowie eines Mordplans u.a. gegen Stalin beschuldigt wurden (vgl. Prozessbericht, 1936, 37f), endete mit der urteilsgemäßen Hinrichtung aller Angeklagten. Im zweiten Prozess (Januar 1937) wurden 17 großteils rangniedere Parteifunktionäre – darunter Karl B. Radek, Georgi (Juri) L. Pjatakow und Grigori J. Sokolnikow – unter der Anklage auf Verrat, Sabotage und Vorbereitung von Terrorakten vor Gericht gestellt (vgl. Prozessbericht, 1937, 19f); 13 wurden zum Tode, Radek, Sokolnikow und zwei weitere Angeklagte zu Gulag-Haft verurteilt. Der dritte Prozess (März 1938) gegen den »›Block der Rechten und Trotzkisten‹« brachte 21 Personen auf die Anklagebank (Prozessbericht, 1938, 36), unter ihnen Nikolai I. Bucharin, bis 1929 Mitglied des Politbüros und Vorsitzender der Komintern, als angeblicher Anführer der vermeintlichen Verschwörung sowie Alexei I. Rykow, 1924-30 Vorsitzender des Rats der Volkskommissare, und Genrich G. Jagoda, 1934-36 Leiter des Volkskommissariats für innere Angelegenheiten (NKWD) und somit auch der politischen Geheimpolizei; alle Angeklagten wurden für schuldig befunden, 18 wurden hingerichtet und drei zu Haftstrafen verurteilt. Zudem fand ein nicht-öffentlicher Militärgerichtsprozess im Juni 1937 gegen Kommandeure der Roten Armee statt, der mit der Exekution der acht angeklagten Generäle endete.

Die MP hatten immense Auswirkungen auf die Entwicklung der SU und ihr Ansehen sowie auf das Schicksal der sozialistischen Bewegung weltweit. Im Zuge der MP und der zeitgleichen Terrorwelle in der ganzen SU wurden wesentliche Teile der Gründergeneration der Bolschewiki und damit auch die von ihnen getragene politische Bewegung ausgelöscht. Die MP trugen zur Zentralisierung der Macht und zur Umwälzung der Sozialstruktur in der SU bei. Die internationale kommunistische Bewegung wurde auf Stalins Kurs eines »Sozialismus in einem Lande« – als Konsequenz der »Revolution in einem Lande« bei Ausbleiben der »Weltrevolution« – verpflichtet (1924, W 6, 204); unter den Bedingungen der von Feinden umstellten, isolierten SU wurde jede Diskussion über alternative Entwicklungsmöglichkeiten abgeschnitten. Dialektisches Denken und innerparteiliche Debattenkultur wurden ausgeschaltet, viele der KP.en weltweit übernahmen weitgehend die stalinschen Positionen.

Für die Entwicklung der SU und der internationalen kommunistischen Bewegung gelten die MP mithin zu Recht als bedeutende Episode, die tiefe Spuren in der Geschichte hinterlassen hat. Und doch haben »die im Namen eines Sozialismus begangenen [Verbrechen]«, wie Wolfgang Fritz Haug feststellt, »die ethisch-politische Substanz der sozialistischen Idee« nicht auslöschen können (1994, II). So hat die internationale kommunistische Bewegung, oder allgemeiner die sozialistische Idee, auch in den Jahrzehnten, die seit den MP vergangen sind, Millionen von Menschen zusammengeführt und organisiert – überall auf der Welt, in unterschiedlichen Ausprägungen und mit verschiedenen Akzenten.

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