Manipulation

A: talāʽub. – E: manipulation. – F: manipulation. – R: manipuljacija. – S: manipulación. – C: cāozòng 操纵

Wolfgang Fritz Haug (I.), Peter Jehle (II.), Marko Ampuja, Juha Koivisto (ChW) (III.)

HKWM 8/II, 2015, Spalten 1657-1675

I. Mundus vult decipi – »die Welt will betrogen werden« – ist seit der römischen Antike ins kollektive Bewusstsein eingemeißelt. Die Herrschenden haben es sich zu keiner Zeit zweimal sagen lassen. Manipuliert wird in allen antagonistischen Verhältnissen, in denen auf die öffentliche Meinung – sei es auch nur die begrenzte der gesellschaftlich herrschenden, politisch regierenden oder administrierenden Klassen und ihrer Gewaltapparate – Rücksicht genommen werden muss. Aber erst das »Zeitalter der Extreme« (Hobsbawm) hat die Sache auf den Begriff und zu einer wissenschaftlich grundierten Technologie und Praxis gemacht. Den Boden für M im großen Stil bereitet das Aufkommen der Massendemokratie auf kapitalistischer Grundlage.

II. Täuschen, Vertuschen, Verschweigen, Ablenken, Schönreden, Lügen – es gibt viele Praxen, in denen die Herrschaftsmächtigen ihre Ziele manipulativ verfolgen. Daher die Bedeutung, die den Formen des Gegenhandelns zukommt, dem Demaskieren, Entlarven, Enthüllen, Aussprechen der Wahrheit, Richtigstellen usw. Ob die Wahrheit ans Licht kommt, ist dabei immer auch eine Frage der Kräfteverhältnisse. Wer die jeder M innewohnende Fälschung aufdeckt, riskiert oftmals Kopf und Kragen – wie die »Whistleblower«, die offenlegen, was als Staatsgeheimnis gehütet wird. Detektivische Forschung und unabhängiger kritischer Journalismus sind verlangt, damit die Beweise für die Unwahrheit gefunden und schließlich auch ans Licht der Öffentlichkeit gebracht werden können. Freilich kann, was sich als ›Enthüllung‹ ausspricht, selbst wiederum manipuliert sein oder sich in M-Zusammenhängen verfangen.

Wo Drahtzieher namhaft gemacht werden, sind die dadurch Bloßgestellten schnell mit dem Vorwurf der ›Verschwörungstheorie‹ bei der Hand. Er soll verhindern, dass weiter nachgebohrt wird. Verschwörungen gibt es ständig, sei es in Form eines abgekarteten Spiels der Mächtigen wie beim Frühstückskartell, sei es in der befreienden Absicht, den Tyrannen zu beseitigen. Sie müssen von der Verschwörungstheorie unterschieden werden, die sich die allgemeine Verunsicherung, ›was man noch glauben kann‹, zunutze macht und die auf konkretem Wissen beruhende M-Kritik in einen allgemeinen M-Glauben umschlagen lässt. Sie steht selbst im Dienst von M. Die herrschaftlichen Verhältnisse und ihre Reproduktion lassen sich so nicht erklären. Die manipulierenden Absichten der im Dienst der herrschenden Klassen agierenden Spezialisten, Funktionäre und Ideologen werden mit der Verwirklichung dieser Absichten gleichgesetzt. Die von Stuart Hall untersuchte Aktivität der Rezipienten wird dabei ausgeblendet. Kultur-, Ideologie- und Geschlechterforschung haben gelehrt, die konkreten Formen einzubeziehen, in denen die Menschen ihr individuelles Selbst- und soziales Weltverhältnis entwickeln. Der widersprüchlich zusammengesetzte Alltagsverstand verlangt nach einer Strategie des Kohärent-Arbeitens, dessen Bedeutung für die Bildung einer emanzipatorischen Gegenhegemonie Antonio Gramsci zu einem der Themen seiner Gefängnishefte gemacht hat. Aufklärung über manipulative Absichten ist unverzichtbar, doch ist damit noch nicht geklärt, wie Konsens und gemeinsamer Wille sich bilden. Die Frage, wie es zur Einheit eines »kulturellen und gesellschaftlichen Blocks« kommt (Gef, H. 11, §12, 1381), setzt ein »organisches« – kein instrumentelles – Verhältnis zwischen Intellektuellen und »Einfachen« voraus.

III. Der von Edward S. Herman und Noam Chomsky in Manufacturing Consent: The Political Economy of the Mass Media (1988; zit. MC) entwickelte Begriff des »Propaganda-Modells« (PM) geht von Paul Lazarsfelds und Robert Mertons Feststellung aus, dass »die stärksten Machtgruppen, unter denen die Verbände der Wirtschaft den wichtigsten Platz einnehmen, Techniken der M des Massenpublikums durch Propaganda übernommen und an die Stelle direkterer Machtausübung gesetzt« haben (1948/1973, 448). Um »das Muster der M und die systematische Verzerrung zu erkennen«, fordern Herman und Chomsky »neben einer Mikroperspektive, die Geschichte für Geschichte untersucht, den Blick auf das Ganze der Medienaktivitäten« (MC, 2). Auch wenn Unternehmen und Regierungen direkte (intentionale) Propagandakampagnen führen, betonen Herman und Chomsky, dass die M durch die Medien in der Hauptsache eine strukturelle ist. – Obwohl akademisch marginalisiert, hat der PM-Ansatz »eine ganze Generation von fortschrittlichen Akteuren mit einer kritischen Haltung gegenüber dem Mainstream-Journalismus« (McChesnay 2008, 83) in Berührung gebracht.

Alltagsverstand, Antiideologie, Aufklärung, befehlsadministratives System, Befreiung, Demokratie, Determinismus, Dissident(inn)en, Disziplin, Elite, Entfremdung, falsche Bedürfnisse, Fernsehen, Film, Freiheit, Führung, Gebrauchswertversprechen, Große Weigerung, Hegemonie, Herrschaft, Ideologe, Ideologiekritik, Ideologietheorie, ideologische Staatsapparate/repressiver Staatsapparat, Information, Informationsgesellschaft, Informationskrieg/informationelle Kriegsführung, Innerlichkeit, Internet, Kampagne, Kampflied, Kohärenz, Kommunikation, Kompetenz/Inkompetenz, Konsens, Kontrolle, Kritik, Kritische Theorie, Kulturindustrie, Kulturstudien (Cultural Studies), Liberalismus, Lüge, Massenkommunikation, Massenkultur, Medienimperialismus, Meinungsfreiheit, öffentliche Meinung, Öffentlichkeit, Pressefreiheit, Propaganda/Agitation, Schein, Sprache, Stalinismus, Studentenbewegung, Totalitarismus, Unbewusstes, Verschwörung, Wahrheit, Warenästhetik, Werbung, Wissen, Zensur

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m/manipulation.txt · Zuletzt geändert: 2024/02/28 20:31 von christian     Nach oben
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