Morgan-Lektüre
A: qirā’at mūrġān. – E: reading of Morgan. – F: lecture de Morgan. – R: čtenie Morgana. – S: lectura de Morgan. – C: duì Mó’ěrgēn de yándú 对摩尔根的研读
Emanuela Conversano (I.), Lise Vogel (II.)
HKWM 9/II, 2024, Spalten 1461-1492
I. Gegenstand einer historisch-kritischen Analyse von Marx’ M-L ist es, zunächst zu erfassen, was er 1880/81 beim Lesen von Lewis Henry Morgans Ancient Society, or Researches in the Lines of Human Progress from Savagery through Barbarism to Civilization (1877) als wichtig für seine Forschungen festgehalten hat, und auf dieser Grundlage die Bedeutung der M-L für Marx’ Gesamtwerk und dessen Rezeption zu erschließen. Morgans Buch enthält den Versuch, eine Stufenfolge der Geschichte der Menschheit »von der Wildheit über die Barbarei bis zur Zivilisation« mittels eines vergleichenden Verfahrens zu rekonstruieren, das auf Feldforschung unter indigenen Gruppen Nordamerikas, schriftlichen Quellen der europäischen Antike und Studien der modernen Geisteswissenschaften basiert.
Der schriftliche Niederschlag von Marx’ M-L besteht aus knapp 100 Heftseiten in seinem Nachlass, auf denen er Morgans Buch exzerpiert und kommentiert hat. »Das vielleicht interessanteste Merkmal dieser Notizen«, so Lise Vogel, »ist die Art und Weise, wie Marx die Struktur von Ancient Society umarbeitete, wobei er sowohl die Abfolge der Darstellung als auch das relative Gewicht der Abschnitte veränderte« (1996, 135). Marx fasst Morgans Buch, das nach der Entwicklung der »Künste des Lebensunterhalts« nacheinander in jeweils eigenen Teilen »Regierung«, »Familie« und »Eigentum« behandelt, also nicht einfach ›originalgetreu‹ zusammen, sondern ordnet das Material wie folgt an: »Künste des Lebensunterhalts (gekürzt); Familie (gekürzt); Eigentum (erweitert); Regierung (leicht erweitert)« (ebd.). Schon diese Anlage erweist die marxsche M-L als eine kritische, hinterfragende Aneignung des Materials, die sich im Rahmen damit zusammenhängender Studien entfaltet. Aufschlussreich für die Bedeutung seiner M-L ist auch der Vergleich mit anderen Materialien im marxschen Nachlass. Die Notizen zum Buch des us-amerikanischen Anthropologen befinden sich nämlich in einem Heft, in dem Marx 1880/81 auch andere Werke über Frühgeschichte, Urgesellschaften und Ethnologie exzerpiert hat – neben vermutlich auf das zweite Halbjahr 1882 zu datierenden Auszügen aus Édouard Hospitaliers 1881 erschienenem Buch La physique moderne. Les principales applications de l’électricité (vgl. IV.31/630). Dieses Notizbuch ist nur eines der vielen von Marx hinterlassenen Studienhefte, die eine komplexe editorische Geschichte haben.
Die Rezeption der marxschen M-L erfolgte lange Zeit indirekt – ohne Rückgriff auf das Exzerptheft selbst – über Engels’ Aneignung von Morgans Text und entsprechende Überarbeitungen von Marx’ Notizen in Ursprung (1884). Bis Anfang der 1970er Jahre war diese Studie von Engels die maßgebliche Quelle für die Beziehung zwischen Marx und Morgan, zumindest für alle, denen die von Dawid B. Rjasanow »auf der Basis von Fotokopien des Originals« erarbeitete und »mit erheblichen Änderungen« 1941 in Archiv Marksa i Ėngel’sa in Moskau erschienene russische Ausgabe (Krader 1972, 1) unbekannt oder sprachlich unzugänglich war.
Die russische Ausgabe erweckte aber ab 1949 große Aufmerksamkeit bei Karl Korsch, dem der us-amerikanische Anthropologe Lawrence Krader 1972 seine Ausgabe der Ethnological Notebooks of Karl Marx widmet. Kraders Edition stellt einen Wendepunkt in der Rezeption dar, auch wenn Marx’ Interesse für nicht-kapitalistische Gesellschaften und nicht-westliche Geschichte schon früher bekannt war. 1976 erschien eine ebenfalls von Krader herausgegebene deutsche Fassung der ethnologischen Exzerpthefte; ein Jahr später erschienen die von Hans-Peter Harstick edierten Exzerpte, die Marx 1879 zu Maxim M. Kowalewskis im selben Jahr veröffentlichten Buch Obščinnoe zemlevladenie. Pričiny, chod i posledstvija ego razloženija (dt. Der Gemeindelandbesitz. Ursachen, Verlauf und Folgen seines Verfalls) anfertigte und in deren zugehörigen bibliographischen Notizen Marx den Titel von Morgans Buch bereits erwähnte (Formen, 222).
Auch wenn ein großer Teil des Nachlasses noch unveröffentlicht bleibt, haben diese Ausgaben dazu beigetragen, die Beziehung zwischen Marx’ Frühwerk und seinen späteren Forschungen – hinsichtlich seiner Beschäftigung mit der außereuropäischen Geschichte und den sozioökonomischen Verhältnissen Russlands – zu erhellen. Das gilt v.a. im Vergleich zu den Forschungen der 1960er und frühen 70er Jahre, als diese Exzerpte kaum zugänglich waren oder genutzt wurden, auch wenn ihre Existenz, wie Krader etwas später schreibt, bereits »seit über fünfzig Jahren bekannt« war (1978, 90). Im Vordergrund stand bis in die frühen 1970er Jahre der Vergleich zwischen den Studien der 1840er (etwa die DI von Marx und Engels) und 1850er Jahre (etwa Marx’ in den Gr enthaltene Skizze der »Formen, die der kapitalistischen Produktion vorhergehen« und seine Artikel in der New-York Daily Tribune über Indien und China), einigen Abschnitten von K I (v.a. Kap. 24 über »Die sogenannte ursprüngliche Akkumulation«) und vereinzelten Äußerungen der späten 1870er und frühen 80er Jahre (v.a. Marx’ Briefentwurf an die Redaktion der Otetschestwennyje Sapiski und seine Briefentwürfe an Wera I. Sassulitsch).
In diesem Zusammenhang führte das Fehlen einer ausgearbeiteten Formationstheorie bei Marx ab den 1960er Jahren zu einer lebhaften Kontroverse über die Kategorie der Gesellschaftsformation im Zusammenhang mit den ›Etappen‹ der historischen Entwicklung – sowohl im ›Westen‹, wo die Debatte sich bes. um den Begriff der »asiatischen« Produktionsweise (Vorw 59, 13/9) drehte (vgl. Sofri 1969; Krader 1975), als auch in der DDR, wo diese Debatte aber mehr in Verbindung mit allgemeinen geschichtstheoretischen und methodologischen Problemen der Gesellschaftswissenschaften stand. In der marxistischen Gesellschaftswissenschaft wurde zutreffend erkannt, dass Fragen der »Theorie der Gesellschaftsformation als der inneren Gliederung historisch bestimmter gesellschaftlicher Systeme« und der »Theorie der Formationsfolge als der großen Stufung und Periodisierung des gesellschaftlichen Entwicklungsprozesses« (Küttler 1978a, 73) auf dem Spiel standen.
Die M-L warf darüber hinaus Fragen zum Verhältnis zwischen der kritischen Theorie der kapitalistischen Produktionsweise Westeuropas und den konkreten Forschungen zu nicht-westlichen gesellschaftlichen Formationen auf, die dem theoretischen Modell zwar nicht ›entsprachen‹, mit denen der Kapitalismus aber in Kontakt kam, wie Marx im Fall verschiedener nicht-westlicher Gesellschaften, v.a. Russlands, in seinem Briefentwurf von 1877 an die Redaktion der Otetschestwennyje Sapiski bemerkt (19/111; frz. I.25/116). Bei der Rezeption der M-L geht es somit auch um das Problem von Evolution und Revolution in Theorie und Geschichte (für einen Überblick vgl. Gesellschaftsformationen, 1978). Eine Rekonstruktion der Editions- und Rezeptionsgeschichte ist daher von Fragen nach der tiefer liegenden Bedeutung und möglichen Aktualität der marxschen M-L nicht zu trennen. Diese philologische Arbeit muss mit dem Vorbehalt angegangen werden, dass Marx nirgendwo eine kohärente Darstellung (vgl. K I, 23/27) der in seinen sog. ethnologischen Exzerpten enthaltenen Forschung vorgelegt hat. Trotzdem kann seine Auseinandersetzung mit Morgans Evolutionsbild mit Methode und Gegenstand der KrpÖ in Verbindung gebracht werden, und zwar im Zusammenhang mit der Theorie des Kapitals als historisch spezifischem Produktionsverhältnis, dessen universale Verbreitung unvermeidlich dazu führt, dass es mit unterschiedlichen Gesellschaftsformen konkret interagiert, die ihrerseits auf Möglichkeiten alternativer Wege in der Zukunft hindeuten (vgl. Gr, 42/373).
II. Engels’ Buch Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates ist seit der Erstveröffentlichung im Oktober 1884 außerordentlich einflussreich im marxistischen Diskurs über die mit der M-L verbundenen Fragestellungen und Probleme. Das gilt bes. für die geschichtsmaterialistische Betrachtung der Geschlechterverhältnisse und damit generell für das Verhältnis von Feminismus und Marxismus in den Auseinandersetzungen seit den 1970er Jahren.
Engels schrieb Ursprung zwischen März und Mai 1884, ein Jahr nach dem Tod von Marx. Die Umstände der überraschend schnellen Fertigstellung des Buchs sind nicht völlig aufgeklärt. An Karl Kautsky berichtet er am 16. Februar 1884 von Marx’ Begeisterung für die jüngste anthropologische Literatur und fügt hinzu: »Hätte ich die Zeit, ich würde den Stoff, mit Marx’ Noten […] bearbeiten, aber daran ist nicht zu denken« (36/110). Dennoch arbeitete Engels in der zweiten Märzhälfte bereits an Ursprung und war Ende April fast fertig (an Kautsky, 26.4.1884, 36/142). Diese Planänderung bedarf der Erklärung. Wahrscheinlich hatte Engels politische Gründe. August Bebel veröffentlichte 1879 Die Frau und der Sozialismus, eine überarbeitete und erweiterte Fassung erschien 1883. Das Buch, von Anfang an enorm populär, kam den Tendenzen zum Reformismus innerhalb der sozialistischen Bewegung entgegen (vgl. Vogel 1983/2019, Kap. 7; Lopes/Roth 1993). Engels’ Entscheidung, Ursprung zu schreiben, dürfte auch mit den Schwächen von Bebels Arbeit zu tun haben. Das Interesse der sozialistischen Bewegung an der Frauenemanzipation erforderte eine geeignetere Grundlage. Ursprung stellt insofern eine implizite Polemik innerhalb der Bewegung dar.
Man begreift Ursprung am besten als ein »Palimpsest«, das »Texte dreier Männer miteinander verschmilzt, die unterschiedliche Vorhaben verfolgten« (Vogel 1996, 131). Der erste Text ist Lewis Henry Morgans Ancient Society von 1877 (dt. Die Urgesellschaft, 1891). Morgans Buch bildet die Grundlage für den zweiten Text, die inmitten anderer Notizen eingebetteten Auszüge und Kommentare, die Marx zu diesem und weiteren zeitgenössischen ethnographischen Publikationen anfertigte. Der dritte Text ergibt sich aus Engels’ überstürztem Bemühen, beide Quellen zu benutzen, um einen Leitfaden für die sozialistische Bewegung zu erstellen. Morgans Ancient Society wurde also auf seinem Weg zu Ursprung auf komplexe Art gefiltert: zuerst durch die M-L von Marx und dann durch Engels, der Morgan im Licht der marxschen Notizen erneut liest. Um die Bedeutung von Ursprung zu verstehen, müssen daher sowohl die Annahmen und Inkohärenzen von Ancient Society als auch die Art und Weise untersucht werden, in der Marx eigene Akzente beim Exzerpieren von Morgan setzte.
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