Komintern
A: komintern. – E: Comintern. – F: Komintern. – R: komintern. – S: Comintern. – C: gongchan guoji 共产国际
Aldo Agosti (I.), Wolfram Adolphi (II.)
HKWM 7/II, 2010, Spalten 1166-1201
I. Die Geschichtsschreibung der K – der Dritten bzw. Kommunistischen Internationale – war lange Zeit mit einer zweifachen Hypothek belastet, die einer Bewertung aus umfassender Perspektive und einer Gewichtung ihres Erbes mit der notwendigen kritischen Distanz im Wege stand. Auf der einen Seite hat ein Großteil der Studien aus den Ländern des ›Realsozialismus‹ das Bild einer Geschichte ›nach Plan‹ überliefert, die sich trotz zeitweiliger Fehler in unverbrüchlicher Treue zu den Prinzipien des ML vollzogen habe (z.B. Die Kommunistische Internationale. Kurzer Historischer Abriss, 1969). Auf der anderen Seite hat sich in vielen, während des Kalten Kriegs im Westen erschienenen Arbeiten geradezu eine Karikatur der K durchgesetzt, die diese mal als Zentrum internationaler Intrigen, mal als Tempel des doktrinären Fanatismus dargestellt hat (z.B. Seton-Watson 1955; Nollau 1959).
Zwar hat es auch vor 1989 nicht an komplexeren Rekonstruktionsversuchen oder Monographien gefehlt, die sich dieser spiegelbildlich angelegten dogmatischen Verhärtung entzogen (Carr 1950-1978; Hajek 1969; Claudin 1970/1977-78), aber erst der Zusammenbruch des ›Realsozialismus‹ 1989-91 und die tiefe Krise der kommunistischen Weltauffassung markieren den Beginn einer neuen Ära. Mit den neuen Forschungsperspektiven, die sich aus dem Ende des Monopols der KPdSU über die K-Archive ergeben haben, hat sich auch der Blick auf die Geschichte des kommunistischen Phänomens selbst gründlich verschoben.
Dieser radikale Perspektivwechsel hat sich widersprüchlich auf die Geschichtsschreibung ausgewirkt. Paradoxerweise haben wir genau in dem Moment, da das Ende des Kalten Kriegs ausgerufen wurde, die Wiederkehr eines historiographischen Ansatzes erlebt, der dem des Kalten Kriegs gleicht: Die Geschichte der K und der KP.en wurde erneut vom Standpunkt der »Hexenjäger« geschrieben, die in ihnen »finstere, repressive und potenziell omnipräsente Organisationen, halb Religion, halb Komplott« sahen (Hobsbawm 1973/1977). So lief man wiederum Gefahr, zu allgemeinen Wesensmerkmalen des kommunistischen Phänomens zu verfestigen, was aus konjunkturellen Entstehungsbedingungen im besonderen Fall resultierte. Das Schwarzbuch des Kommunismus von Stéphane Courtois (frz. 1997) stellt in dieser Hinsicht ein Extrembeispiel dar, aber auch Comrades! A History of World Communism von Robert Service (2007) entgeht dieser Versuchung – unterm Anschein einer ausgewogeneren Schilderung – nicht. Da die kommunistische Bewegung in der Zeit der K durch eine eiserne organisatorische Einheit gekennzeichnet war, muss auch der internen Geschichte der Institutionen, der Ideen und politischen Linien der Führungsgruppen ein herausragender Stellenwert eingeräumt werden; die Forschungen dazu müssen intensiviert werden (Kahan 1976; Huber 1998). Doch die Geschichte der K erschöpft sich nicht in der ihrer Zentrale, auch nicht in der Geschichte der Beziehungen zwischen Zentralapparat und peripheren Apparaten; genauso wenig lässt sich die Geschichte der KP.en, die ihr angehört haben, als einsinnige Beziehung zwischen der allmächtigen ›Moskauer Zentrale‹ und den verschiedenen nationalen Sektionen interpretieren, als seien letztere bloß gefügige Befehlsempfänger gewesen und hätten nichts mit der Realität der nationalen Gesellschaften zu tun gehabt. Die Erforschung ihrer gesellschaftlichen Geographie und ihrer Wählerschaft, ihrer grundlegenden Organisationsstrukturen und sozialen Zusammensetzung, der Heranbildung und Rekrutierung ihrer Kader, ihrer politischen Kulturen und Symbolwelten bildet einen ebenso wichtigen Baustein. Die Forscher der jüngeren Generationen scheinen sich dessen bewusst zu sein. Die im Folgenden gebotenen Umrisse können diese Perspektive nicht umfassend entwickeln, nur Hinweise geben.
II. […] Nach dem Zusammenbruch des befehlsadministrativen Sozialismus sowjetischer Prägung 1989/90 ist die Forschung zur Geschichte der K in eine neue Etappe eingetreten. Insbesondere die Untersuchung der »Transformation der K zu einer Organisation, die dem despotischen Willen Stalins, seines Apparates und seiner Gefolgsleute ausgeliefert wurde« – von Theodor Bergmann und Mario Kessler als »ein Zentralthema« herausgearbeitet (1992) – kann sich infolge der Moskauer »Archivrevolution« (Bayerlein 2008) auf eine breite Dokumentengrundlage stützen. Neben die offiziellen Dokumente und Interpretationen sowie die z.B. von Theo Pirker 1964 ausgewerteten Artikel aus […] Inprekorr und Rundschau (…) trat damit eine Fülle bisher unbekannter Beschlüsse, Telegramme, Briefe, Anweisungen und Gesprächsprotokolle. Sie bestätigen Gert Schäfers Befund, wonach das Versinken der K in einem »verhängnisvollen Gemisch von tönerner weltgeschichtlicher Siegesgewissheit, praktischer wie theoretischer Sterilität des Sektierertums, Instrumentalisierung durch das Stalin-Regime und inquisitorisch verfochtenem politischen Monopolanspruch« als »weltgeschichtliches Unglück« gelten muss (1992). Auch die Auffassung, dass die faschistische Katastrophe »unter anderem auch durch die Politik der K mitverursacht« worden sei (…), ist durch die seitherige Forschung bestärkt worden. […]
Die Protagonisten dieses Herangehens entgehen jedoch nicht der Gefahr, andere Akteure der Politik zu weit in den Hintergrund zu drängen. Die einstige Selbstüberhöhung der Kommunisten findet in der Kritik modo negativo ihre spiegelbildliche Wiederholung. Das ist im Sinne einer auf zukünftiges Handeln gerichteten Selbstkritik kaum vermeidbar, kann aber auch – wie Pirker in Auseinandersetzung mit dem Antikommunismus feststellt – zu einer »Mystifizierung des Kommunismus« beitragen, die dessen »vernünftige Erfassung« verhindert und »Zwangsschlüsse und Zwangsreaktionen« hervorbringt […] (1964).
➫ Aktionseinheit, Anarchosyndikalismus, Antifaschismus, Arbeiterbewegung, Bolschewisierung, Bucharinismus, Bündnispolitik, Demokratie, Demokratie/Diktatur des Proletariats, demokratischer Zentralismus, Einheitsfront, Entkolonisierung, Faschismus, Imperialismus, internationalistische Bewegung, Kalter Krieg, Kolonialismus, Kommunismus, Konterrevolution, Krieg, Marxismus Lenins, Marxismus-Leninismus, Moskauer Prozesse, nationale Bourgeoisie, Neue Ökonomische Politik, Peripherie/Zentrum, Rätesozialismus, Sozialfaschismus, Spanischer Bürgerkrieg, Stalinismus, Volksfront, Weltkrieg, Zentralismus, Zimmerwalder