Mitleid

A: šafaqa. – E: compassion, pity. – F: compassion, pitié. – R: sostradanie. – S: compasión. – C: tóngqíng 同情

Hans-Ernst Schiller (I.), Nanna Hlín Halldórsdóttir (RSt) (II.)

HKWM 9/II, 2024, Spalten 1081-1113

I. Ernst Bloch setzt sich in seinen in den 1950er Jahren gehaltenen Leipziger Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie für eine differenzierte Betrachtung Friedrich Nietzsches ein und hebt dessen theoretische Verdienste hervor. Aber er verschweigt auch nicht, dass Nietzsche es dem Faschismus leicht gemacht hat, nicht zuletzt durch die »Ablehnung des M« (Bloch 1985, 411). Diese Ablehnung ist Ausdruck einer mächtigen sozialen Tendenz. »Viele ethische Begriffe haben im Zuge der Durchsetzung moderner Sozialverhältnisse ihre Selbstverständlichkeit verloren, aber keiner scheint mehr in den Verdacht des Überholten, Unzeitgemäßen und Unaufrichtigen geraten zu sein als der des M. Psychologische Reflexionen haben ihm zugesetzt, mehr noch die raue Wirklichkeit einer auf wirtschaftlicher Konkurrenz beruhenden, den Egoismus prämierenden Gesellschaft.« (Schiller 2011, 70) Für Erich Fromm gehört »Mitleidslosigkeit«, »die Gleichgültigkeit gegen das Schicksal der Nebenmenschen« zum bürgerlichen Sozialcharakter (1932/1980, 73f), und Adorno hält »die Kälte der gesellschaftlichen Monade, des isolierten Konkurrenten« für einen »Grundzug der Anthropologie, also der Beschaffenheit der Menschen, wie sie in unserer Gesellschaft tatsächlich sind« (Erziehung nach Auschwitz, 1966, GS 10.2, 687). Eric Hobsbawm bezeichnet die Durchsetzungsphase des Kapitalismus um die Mitte des 19. Jh. als eine »Zeit beispielloser Hartherzigkeit« (1962/2017, 253).

Allerdings gab es auch gegenläufige Tendenzen wie die Aktivierung christlicher Barmherzigkeit, etwa durch die 1865 gegründete Heilsarmee, oder die Fortschreibung des bürgerlichen Philanthropismus der Aufklärung, der seine Funktion verändert, sobald eine autonome Arbeiterbewegung die Eigentumsverhältnisse infrage zu stellen beginnt. Kritik am Weltanschauungsmitleid, am »Gesetz des Herzens« (Hegel), an sentimentalen und anmaßenden Formen des M und natürlich auch am Mitleidsunternehmertum karitativer Organisationen ist notwendig. Gleichwohl bedürfen auch die Mitleidlosigkeit des bürgerlichen Alltags und die Verunglimpfung des Mitleidsimpulses einer kritischen Betrachtung. Die abstrakte Ablehnung des M untergräbt ein Motiv zur Veränderung und wirkt sich auf eine humanistische Ethik zerstörerisch aus.

M ist sowohl ein Affekt wie eine Tugend. Als Affekt handelt es sich um ein Triebgefühl, das am Leiden anderer leidet und es zu ändern oder ihm zu entkommen sucht. Als Tugend ist M eine Haltung (lat. habitus), die uns veranlasst, das moralisch Richtige zu tun, nämlich in Notsituationen zu helfen. Das deutsche Wort M ist eine Lehnübersetzung von lat. compassio (das seinerseits auf das gr. συμπάθεια zurückgeht) und ab dem 17. Jh. bezeugt. Es tritt zunehmend an die Stelle des Worts Barmherzigkeit, das seinerseits eine Lehnübersetzung von lat. misericordia darstellt (Duden 1989, 462). Die Verbindung von Affekt und Handlungsimpuls ist ursprünglich eng, kann aber auch gelockert werden. Wir können M fühlen, ohne eine Handlungsmöglichkeit zu haben oder zu suchen. Die Selbstbezüglichkeit des Affekts tritt dann in den Vordergrund und wenn sie sich verfestigt, können wir von einem sentimentalen M sprechen: Es kommt nicht mehr darauf an, Gutes zu tun, sondern das Leiden am Leiden anderer schlägt um in ein Sich-Gut-Fühlen des ›mitleidenden‹ Subjekts. Es kann die Verbindung von Affekt und Handlungsimpuls aber auch gekappt werden, wenn das Leiden am Leid anderer das Subjekt überschwemmt. Es findet eine ›Ansteckung‹ statt, sei es durch Identifikation, sei es durch mimetische Anverwandlung (Nietzsche, Morgenröte, 1881, II, Aph. 142; KSA 3, 133-36), die ein besonnenes Helfen unmöglich macht. In solchen Fällen sprechen wir von pathologischem M (vgl. Schiller 2011, 72).

Die sentimentalen und pathologischen Formen des M haben dazu beigetragen, es anrüchig zu machen. Deshalb wird im 20. Jh. teilweise versucht, »M« durch »Mitgefühl« zu ersetzen. Es ist jedoch vergeblich, sachliche Probleme durch terminologische Neuerungen umgehen zu wollen, zumal in diesem Fall das Ersatzwort einen allgemeineren Gehalt hat und als Oberbegriff für M, Mitfreude und Mittrauer fungiert. Zudem bedeutet die terminologische Vermeidung auch ein Zurückweichen vor einer Mitleidskritik, die im Namen des Ideals der Härte und des offenen Eintretens für Konkurrenzkampf und Klassenspaltung vollzogen wird. Jede Betrachtung des M wird darauf führen, dass es als Affekt wie als Tugend oder Wert im Zusammenhang mit anderen Affekten, Tugenden oder Werten zu sehen ist. So kann man das M kaum trennen von der Empörung über die Verletzung von Gerechtigkeit und auch nicht vom Schuldgefühl. Spendenkampagnen scheinen oft an M und Schuldgefühl zugleich zu appellieren. Das M kann auch in einer Spannung zur Gerechtigkeit stehen, falls es etwa nach gewissen Kriterien selektiv oder nur rein willkürlich Gnade gewährt. Es kann Achtung implizieren, indem es den Notleidenden als seinesgleichen anerkennt (Rousseau), aber auch Selbstüberhebung (Nietzsche) – in jedem Fall steht es in Beziehung zur Anerkennung des gleichen Anspruchs auf menschliche Würde.

II. Die feministische Debatte um M – und um verwandte Konzepte wie Empathie bzw. Einfühlung(svermögen) (engl. meist empathy), Mitgefühl (engl. meist sympathy oder compassion) und Bemitleiden (engl. meist pity) – fragt nach den Möglichkeiten und Grenzen, sich als eine andere Person zu fühlen, bes. mit Blick auf ihr Leiden, und sie dabei zu verstehen und zu unterstützen. Geschichtlich galt M als ein spezifisch weiblicher Zug, da Frauen traditionell für die emotionale Fürsorge zuständig waren, die unentbehrlich ist für jegliches Gemeinwesen. Dennoch sind Theoretikerinnen des M in der westlichen Philosophiegeschichte ebenso rar wie Analysen der Geschlechterrollen beim M, auch hinsichtlich ihrer Verschränkungen mit Moral, Ethik und Politik.

Um sich mit dem Leiden anderer identifizieren zu können, scheint ein gewisses Gefühl der Gemeinsamkeit notwendig. Dabei sind die unterschiedlichen Standpunkte des Spendens und des Empfangens von M auseinanderzuhalten. Inwieweit teilen die Subjekte auf beiden Seiten eine gemeinsame Grundlage? Welche Handlungsmacht wird den verschiedenen Subjektpositionen zugesprochen? Relevant ist auch, welche Subjektposition bei der Artikulation von M, sei es in philosophischen Texten oder globalen Menschenrechtskampagnen, zur Identifikation nahegelegt wird. Oft wird ein (als männlich vorausgesetzter) Leser bzw. Rezipient als rationales Subjekt angesprochen, das sich selbst als autark zu verstehen hat, wie es Genevieve Lloyd in ihrer Auseinandersetzung mit der westlichen philosophischen Tradition des »man of reason« kritisiert (1979 u. 1984).

Frigga Haug stellt fest, dass die »allgemeine Geschichte der Moral […] ohne Frauen aus[kommt]« und hauptsächlich mit (historisch) ›männlichen‹ Themen befasst ist (1983, 671). Die mit M befasste Moralphilosophie spricht den Leser dementsprechend als autarkes Subjekt an, d.h. als Person, die M zeigt, nicht aber als Person, die M empfängt. Dies kann dem Leser das Gefühl geben, die Kontrolle über die Situation zu haben oder gar der bemitleideten Person überlegen zu sein. Auf Unterstützung angewiesen zu sein, gälte ihm nicht als fundamentaler Teil menschlicher Existenz, sondern als beschämend.

»Mit welchen Werten im Laufe der Geschichte die Moral verknüpft wird«, hängt Haug zufolge davon ab, »welche Vorstellungen die einzelnen [Moralphilosophien] vom Menschen hatten« (656). Wenngleich der Mensch hier meist als Mann vorgestellt wird und eine männliche Perspektive auf Moral in wissenschaftlichen Debatten vorherrscht, formen die »ideologischen Mächte« (660) ein doppeltes Verständnis: »es gelten also nicht für jedes Geschlecht von vornherein andere Werte, […] sondern die gleichen Werte bedeuten je nach Geschlecht Verschiedenes, beziehen sich auf andere Praxen, verlangen ein anderes Verhalten. Moral ruft so beide Geschlechter zur Ordnung – sie verstehen es, jedes an seiner statt.« (659) Aus feministischen Untersuchungen zur Vergesellschaftung von Frauen, die selbst eine ethische Praxis ist, ergaben sich hinsichtlich der Artikulation von M neue Bedeutungen und neue Praxen. Damit ging generell ein Paradigmenwechsel im feministischen Verständnis sozialer und interpersoneller Beziehungen einher. In diesem Zuge wurde auch M als emotionales interpersonelles Konzept neu definiert.

Anerkennung, Angst/Furcht, Anthropologie, Armut/Reichtum, Aufklärung, Bedürfnis, bürgerliche Gesellschaft, Egoismus, Einfühlung, Elend, Erfahrung, Erinnerung, Erinnerungsarbeit, Ethik, ethisch-politisch, feministische Ethikdiskussion, Folter, Französische Revolution, Frauenbewegung, fremd/Fremdheit, Freude, Frustration, Gefühle/Emotionen, Genuss, Gerechtigkeit, Geschlechterverhältnisse, Gewalt, Gleichgültigkeit, Glück, Haltung, Handlung, Handlungsfähigkeit, Hierarchie/Antihierarchie, Humanisierung der Arbeit, Humanismus, Humanismusstreit, Identifikation, Individualismus, Individuum, Interesse, kategorischer Imperativ, Katharsis, Kolonialismus, Kritische Psychologie, Lachen, Leistung, Liebe, Luxus, Männlichkeit, Melancholie, Menschenrechte, Menschenwürde, Moral, moralische Ökonomie, Motivation, Naturalisierung, Neid, Neoliberalismus, Nihilismus, Opfer/Täter-Debatte, Paternalismus, Posthumanismus, Postkolonialismus, privat/öffentlich, Psychologie, Rasse/Klasse/Geschlecht, Rassismus, Scham, Schmerz, Schuld, Solidarität, Standpunkt/Perspektive, Standpunkt-Theorie, Subalternität, Tierrechte, Unglück, Unterdrückung, Vergewaltigung, Wesen des Menschen, Wir

artikel_per_email.jpg

Übersicht

Dies ist eine Übersicht über alle vorhandenen Seiten und Namensräume.

Wikiaktionen
Benutzeraktionen
Andere aktionen
 
InkriT Spende/Donate     Kontakt und Impressum: Berliner Institut für kritische Theorie e.V., c/o Tuguntke, Rotdornweg 7, 12205 Berlin
m/mitleid.txt · Zuletzt geändert: 2024/02/05 23:00 von christian     Nach oben
Recent changes RSS feed Powered by PHP Valid XHTML 1.0 Valid CSS Driven by DokuWiki Design by Chirripó