Gegensatz

A: taḍādd. – E: opposition. – F: antithèse, opposé. – R: protivopoložnost’. – S: oposición. – C: dui li, mao dun 对立, 矛盾

Tilman Reitz

HKWM 5, 2001, Spalten 14-35

»Die Bourgeoisie«, schreibt Brecht, »produziert als ihre größte historische Leistung die Dialektik. Diese ist eine Betrachtungsweise, welche in einheitlich auftretenden Formationen wachsende Gegensätze aufspürt, eine auf Veränderungen, Umwälzungen, Entwicklung das Interesse lenkende Betrachtungsweise.« (…) Tatsächlich eröffnet im dialektischen Denken v.a. der Begriff des G die Möglichkeit, sich eingriffsfähig in sozialen Konflikten zu bewegen, statt sie in Zuschauerpose als bunte Pluralität abzubilden.

Für die traditionelle Metaphysik und ihre Reartikulation bei Hegel gewinnt G sein Interesse zunächst als Bindeglied zwischen Logik im weitesten Sinn (den Formalverhältnissen von Begriffen und Aussagen), Ontologie und der politischen Funktion intellektueller Tätigkeit. Von polaren Begriffsbildungen (›links-rechts‹) über komplementäre (›Käufer-Verkäufer‹) bis zum Ausschließungsverhältnis (Annahme/Gegenannahme) strukturieren G.e die sprachlich-logischen Raster, mit denen wir uns in der Welt orientieren; von Klassifikationen wie ›körperlich-geistig‹ bis zur Auffassung der Gesamtwirklichkeit als Kampf gliedern G.e Seinsordnungen; durch die Integration gegensätzlicher Positionen schließlich etabliert sich Philosophie als politische Instanz. Die von Hegel geprägte Dialektik nutzt den G-Begriff ausgehend von der letzten Möglichkeit dazu, die Beschränktheit definitiver Stellungnahmen zu hintergehen und scheinbar feststehende bzw. selbständige Realitäten als ›Momente‹ eines Entwicklungsgangs bzw. systemischen Zusammenhangs zu begreifen. ›G‹ gerät damit in Nachbarschaft zu einer Reihe dialektischer Bewegungsbegriffe, vornehmlich Widerspruch und Antagonismus, mit denen er oft synonym verwendet wird, aber auch Antithese, Negation, Entzweiung, Extrem. Anders als die ›Entzweiung‹ weist er jedoch nicht auf eine vorausliegende Einheit zurück, und anders als der ›Widerspruch‹ ist er nicht vom Standpunkt eines Systemzusammenhangs gebildet.

Marx setzt den G-Begriff vorrangig ein, um Perspektiven gesellschaftlicher Transformation zu erschließen. Gelingt es, die Konflikte von Interessengruppen und die Kollision von Handlungsorientierungen in ihrem Zusammenhang abzubilden, wird geschichtlicher Wandel begreifbar und gestaltbar: die Krisenlogik des G-Nexus gibt Anlass zu seiner Umwälzung, und die politische Opposition treibt sie voran. Bei Marx und seinen Nachfolgern überwiegt freilich, wo geschichtliche Formationen – insbesondere der zerrissene Zusammenhang der kapitalistischen Gesellschaft – strukturanalytisch charakterisiert werden sollen, der Begriff des Widerspruchs. Inhaltlich bedeutet dies zumeist, dass die herzustellende Perspektive der Vermittlung sozialer G.e in die Einheitsperspektive einer logisch-geschichtlichen Totalität überführt wird. Umgekehrt verstellen die liberalistischen und postmodernen Ideologien der Pluralität die Möglichkeit, einen veränderbaren Gesamtzusammenhang von G.en auch nur zu denken; übrig bleibt eine Vielheit formal gleichberechtigter Partikularinteressen, von denen sich faktisch die ökonomisch und machtstaatlich stärksten durchsetzen. Ein erneuertes marxistisches G-Denken böte in beiden Fällen Gegenmittel.

Antagonismus, Aufhebung, Ausbeutung, Dialektik, dialektisches Bild, Einheit, Entäußerung, Entfremdung, Extreme, Gebrauchswert, Große Weigerung, Grundwiderspruch, Hegelianismus, Hegel-Kritik, Klassenkampf, Negation der Negation, Revolution, situiertes Wissen, Standpunkt, Umschlagen, Unterdrückung, Wertformanalyse, Widerspruch

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