Geisteskrankheit

A: maraḍ ‛aqlī. – E: mental illness. – F: maladie mentale. – R: psichičeskaja bolesn’. – S: enfermedad mental. – C: jingshenbing 精神病

Erich Wulff

HKWM 5, 2001, Spalten 106-113

Die Bezeichnung G benennt die Zuweisung des Wahnsinns an den Zuständigkeitsbereich ärztlichen Wissens und Handelns. Als Oberbegriff für alle Arten von Verrücktheit, Irr- und Wahnsinn wurde sie in Frankreich erstmals von Esquirol (1805), in Deutschland von Haindorf (1811) verwendet. Durch Griesingers Definition »Geisteskrankheiten sind Gehirnkrankheiten« (1845) wurden »Psychiatrie und Neurologie« zu einem einzigen medizinischen Spezialfach zusammengefasst, als dessen Objekt das Nervensystem fungierte. Die Bezeichnung G blieb bis in die 1930er Jahre dominant und prägte entsprechend den Titel des psychiatrischen Standardwerkes jener Zeit in Deutschland: Oswald Bumkes Handbuch der G.en (1932). Der deutschsprachige Diskurs über den Wahnsinn als G zeigt allerdings die Besonderheit, dass die Wahl der Bezeichnung nicht, wie das französische »maladie mentale«, allein der rationalistischen Tradition der Aufklärung geschuldet ist, sondern auch den religionsphilosophischen Erwägungen der Romantik, insbesondere Schellings, dem zufolge die Seele das »Göttliche im Menschen« war und entsprechend nur der Geist, nicht aber die Seele erkranken kann (1810). Erst im 20. Jh. kehrte sich diese Bewertung um.

Nach dem Zweiten Weltkrieg, endgültig mit dem Anlaufen der bundesdeutschen Psychiatriereform (1975) wurde »G« zunehmend durch die Bezeichnung »seelische« bzw. »psychische Krankheit« und schließlich durch »seelische« bzw. »psychische Störung« ersetzt; es galt sogar als politisch inkorrekt, ja als beleidigend, den Ausdruck zu gebrauchen. Ironisch verwendet hat ihn 1971 Bukovskij in seiner Polemik gegen den politischen Missbrauch der Psychiatrie: Eine neue G in der UdSSR: die Opposition. Eingeschränkt genutzt wird er gelegentlich noch zur Untergliederung der sogenannten »endogenen« Psychosen, und zwar als synonyme Bezeichnung für die Gruppe der Schizophrenien, um diese von den Gemütskrankheiten aus dem manisch-depressiven Formenkreis abzugrenzen. Aus den modernen psychiatrischen Klassifikationssystemen (…) ist der Term G völlig verschwunden.

Angst/Furcht, Antipsychiatrie, Armut/Reichtum, Bewußtsein, Biologismus, Demokratische Psychiatrie, Eugenik, Freudomarxismus, Geist, gesund/krank, Kompetenz/Inkompetenz, Moral, Normalisierung, Psychoanalyse und Marxismus, Vernunft, Wahnsinn

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