Erfahrung

A: ḫibra. – E: experience. – F: expérience. – R: opyt. – S: experiencia. – C: jingyan 经验

Dieter Wittich

HKWM 3, 1997, Spalten 710-720

Äquivalente zum Wort E gehören seit der Antike (griech. ἐμπειρία, lat. experientia) beständig zur Terminologie philosophischen und sozialtheoretischen Denkens. Doch war zu allen Zeiten eine große Bedeutungsvielfalt damit verbunden. Die Inhalte variieren abhängig von den Gedankengebäuden, in denen das Wort jeweils benutzt wird, sowie von den mit diesen verfolgten theoretischen oder praktisch-sozialen Anliegen. Selbst die mit E bezeichneten ideellen Prozesse oder deren Resultate erweisen sich als höchst unterschiedlich. Neben Denkern, die einzig Sinnesdaten als E bezeichnen, stehen besonders in neuerer Zeit andere, die diese Bezeichnung bis auf bestimmte Theorien hin ausdehnen. Spätestens seit Franscis Bacon (Das neue Organon, 1620) wird dabei einerseits zwischen der »zufälligen«, also spontan erreichten Alltags-E, und der »gesuchten« (»Experiment genannten«) E unterschieden »experientia vaga«, andererseits zwischen »erratischer« Experimental-E und der »wahren E-Ordnung« (verus experientiae ordo), die aus erfahrungsgestützten Verallgemeinerungen (axiomata) bestimmte Experimente ableitet, deren Resultate sie wiederum verallgemeinert usw. (I, Aph.). John Locke wird in seinem Essay Concerning Human Understanding (1689) auf die Frage nach dem Ursprung des Stoffes von Vernunft und Wissen (»materials of reason and knowledge«) »mit einem einzigen Wort« erwidern: »von der E« (II, ch. 1.2). So beginnt Kant die KrV: »Dass alle unsere Erkenntnis mit der E anfange, daran ist gar kein Zweifel« (B 1). Aber dieser Anfang ist nur einer »der Zeit nach«, E ist nicht selbstverständlich; zu untersuchen ist daher die »Verstandestätigkeit«, die »den rohen Stoff sinnlicher Eindrücke zu einer Erkenntnis der Gegenstände zu verarbeiten« hat (…). Gerade um das allein legitime E-Wissen zu sichern, muss der Bereich der aller E vorausliegenden ›Vernunft‹ einer vorgängigen Analyse unterworfen werden. – Hegel wendet den E-Begriff aufs Denken zurück; in der PhG zeigt sich etwa, »dass die Dialektik der sinnlichen Gewissheit nichts anderes als die einfache Geschichte ihrer Bewegung oder ihrer E ist« (Kap. 1), und entsprechend bei den komplexeren Bewusstseinsgestalten, wobei der Übergang von einer zur nächsten immer durch die Rückkoppelung solcher E vermittelt ist.

Insgesamt gesehen werden mit E kognitive Prozesse oder/und deren Resultate bezeichnet, die von einem individuellen oder kollektiven Subjekt selbst (wenn auch nur mehr oder weniger autonom) bei der Auseinandersetzung mit seiner natürlichen und sozialen Umwelt vollzogen bzw. erreicht wurden. Die theoretische und insbesondere philosophische Reflexion zur E betraf oder betrifft sowohl Merkmale jeder E (deren Subjektivität und Objektivität, kognitiven Wert, soziale und geschichtliche Bestimmtheit, praktische Bedeutung usw.) als auch speziell solche der Alltags-E oder der wissenschaftlichen E.

Der Marx des Kapital bewegt sich vornehmlich im Rahmen des letztgenannten Problemkreises, wenn er dort die Alltags-E in der bürgerlichen Gesellschaft in das Zentrum seiner Untersuchungen zur E rückt. Doch kann er dabei auf Einsichten aufbauen, die er weit früher (im Zusammenhang mit seinen Darlegungen zur Entfremdungsproblematik) nicht nur zur formationsspezifischen Prägung von E, sondern damit auch zur objektiven Bestimmtheit, zum subjektiven, sozialen und geschichtlichen Charakter jeglicher E erreicht hat.

Abbild, Alltag, Alltagsforschung, Alltagsverstand, Bewußtheit, Dialektik, Empirie/Theorie, Empirismus, Entfremdung, Epistemologie, Erinnerung, Erkenntnis, Erkenntnistheorie, Erscheinung, Experiment, falsches Bewusstsein, Fetischcharakter der Ware, gesunder Menschenverstand, Marxismus-Leninismus, Mystifikation, Positivismusstreit, Staatssozialismus, Subjekt-Objekt, Theorie, Wissenschaft

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