Kulturrevolution
A: ṯaura aṯ-ṯaqāfīya. – E: Cultural Revolution. - F: révolution culturelle. – R: kul’turnaja revoljucija. - S: Revolución Cultural. – C: wenhuageming 文化革命
Fredric Jameson (RS)
HKWM 8/I, 2012, Spalten 422-432
Der Begriff der K, obwohl erst in der Neuzeit ausgearbeitet, ist integraler Bestandteil jeder Theorie der Revolution oder gesellschaftlichen Systemveränderung, nicht nur marxistischer Theorien. Doch hat ihn das Schicksal der chinesischen ›elf Jahre‹ verdunkelt. Die »Große Proletarische K«, wie man sie offiziell nannte, wurde aus einer lediglich kontingenten geschichtlichen Erfahrung zum beispielgebenden Lehrbuch.
Der Ausdruck selbst wurde von Lenin in seinen letzten Werken geprägt, findet sich aber der Sache nach theoretisch ausgearbeitet bereits in Staat und Revolution (August 1917). Der Vorgang jedoch, der revolutionäre Subjektivität auf der Grundlage einer neuen Produktionsweise in kollektive Subjektivität überführt, kann bereits am Beispiel der Französischen Revolution beobachtet werden, an Robespierres Erfindung der Göttin der Vernunft und seines Versuchs, ihren Kult zu propagieren. Man kann davon ausgehen, dass jede System-Umwälzung sich mit diesem Problem auseinandersetzen musste, das, wie in Stalins UdSSR, auf mindestens zwei Ebenen zum Tragen kommt: als Produktion einer neuen Kultur im engeren Sinne von Literatur, Film usw.; als Umformung der Alltagskultur in einem allgemeineren Sinn. Solche Projekte werfen theoretische Fragen auf nach dem Kulturbegriff selbst und der Angemessenheit traditioneller Vorstellungen von den Superstrukturen; nach dem Verhältnis von Kultur und Ideologie, d.h. der dialektischen Unterscheidung zwischen bürgerlicher und sozialistischer Kultur; schließlich nach der Angemessenheit von Gramscis Hegemonie-Begriff als einer Möglichkeit, das sich ständig verschiebende Verhältnis von Konsens und Gewalt innerhalb einer solch tiefgreifenden kulturellen Veränderung zu erfassen.
Aber selbst in dieser kurzen Übersicht bedarf es einer Erweiterung des Begriffs der K über den Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus oder den von der bürgerlichen zur sozialistischen Gesellschaft hinaus: Es muss die Frage gestellt (wenn auch nicht unbedingt beantwortet) werden, ob dieser Begriff nicht auch für die Deutung früherer geschichtlicher Übergänge zwischen Produktionsweisen nützlich und anregend sein könnte. Max Webers Protestantische Ethik mit seiner eindrucksvollen Beschreibung der Verwandlung der Bauern in Lohnarbeiter könnte dabei als Modell dienen (vgl. RS 1). Sie bezieht sich zwar auch auf den Übergang zum Kapitalismus, aber das Gesamtkonzept der »Wirtschaftsethik der Weltreligionen« umfasst auch das Verhältnis von Kultur und gesellschaftlichen Umwälzungen in früheren Epochen (ebd.). Denn die ambivalente Stellung der Religion bei Weber, die er als ein aktives Moment darstellt, ist von Bedeutung für das allgemeinere Problem, Kultur selbst als Bestandteil der Theorie der K zu fassen. Als Einwände gegen eine solche Erweiterung lassen sich anführen: 1. die Länge solcher Übergänge, von denen angenommen werden kann, dass sie mehrere Generationen dauern; und 2. der relativ nicht-intentionale Charakter dieser Prozesse, die offenbar an kein kollektives Projekt mehr gebunden sind. Insofern viele frühere Übergänge den Mythos eines großen menschlichen oder göttlichen Gesetzgebers und die Stiftung einer Verfassung beinhalten, könnten sie mit modernen K.en durchaus mehr gemein haben, als es auf den ersten Blick scheint. Ebenso muss die Dialektik in solche Vergleiche mit einbezogen werden, namentlich der qualitative Unterschied zwischen ihnen, welcher der spezifischen Dynamik der betreffenden Produktionsweisen geschuldet ist. Solch qualitative und strukturelle (dialektische) Unterschiede führen auf ein weiteres Thema, nämlich die Bedeutung des Begriffs der K in der Gegenwart, die durch Informationstechnologien bestimmt ist, die es früher nicht gab, sowie durch all die anderen Besonderheiten, die die Kultur der Postmoderne oder der Globalisierung (oder des Spätkapitalismus) ausmachen.
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