Karneval
A: karnavāl. – E: carnival. – F: carnaval. – R: karnaval. – S: carnaval. – C: kuanghuanjie 狂欢节
Rüdiger Haude, Peter Jehle
HKWM 7/I, 2008, Spalten 397-406
Es ist der Moment des K, der es dem Balladensänger in Bertolt Brechts Leben des Galilei erlaubt, die Wahrheit des Kirchenapparats, der Galilei zum Widerruf gezwungen hat, in Zweifel zu ziehen: »Es soll jetzt die creatio dei / Mal andersrum sich drehn. / Jetzt soll sich mal die Herrin, he! / Um ihre Dienstmagd drehn.« (…) Kinder und Narren sagen die Wahrheit, weiß das Sprichwort. Während der vom Regiment der staatlichen und kirchlichen Mächte eingeräumten Frist einer kontrollierten Umkehr der Hierarchien, welche die Dienstmagd an die Stelle der Herrin setzt, wird sagbar, was sonst verfolgt wird: Der Umsturz am Himmel, der die Planeten aus den Bahnen geworfen und die Erde aus dem Zentrum des Weltalls vertrieben hat, wird zur utopischen Botschaft, die vom Umsturz der Verhältnisse auf der Erde kündet.
Die karnevaleske Umkehr der Ordnung, die nicht nur die der Klassen, sondern auch die der Geschlechter betrifft, ruft in Erinnerung, dass nichts bleibt, wie es ist. Sie schafft dem »Seufzer der bedrängten Kreatur« (…), als welcher bei Marx die Religion fungiert, episodische Erleichterung. Alle sollen gut leben, nicht nur die Herren. Mit dem ›Fleisch‹, von dem der K seinen Namen hat (von lat. caro, carnis), kommt eine Gegenordnung zur herrschenden der Not und des Hungers ins Bild: Noch die christliche Botschaft partizipiert an seinem Symbolgehalt, indem sie die Erlösung an die ›Fleischwerdung‹ Gottes bindet. Freilich bleibt die symbolisch-expressive Wiederaneignung des entfremdeten Gemeinwesens, die im K praktiziert wird, an die herrschende Ordnung gebunden: Ihre episodische Negation, die mit der Besetzung des Rathauses durchs närrisch gewordene Volk beginnt, ist auch Moment ihrer Restauration. Das reinigende Feuer, das der bevorstehenden Periode des Wachstums den Boden bereitet, ist zugleich der Scheiterhaufen, auf dem der ›König K‹ und seine Helfer am Ende verbrannt werden. Daher die Ambivalenz des karnevalistischen Treibens: revolutionär und konservativ, rebellisch und subaltern, befreiend und zugleich die Ordnung wieder herstellend.
Aus der komplementären Zuordnung von Alltag und Fest holt die Obrigkeit einen Teil des ideologischen Zements, der ihre Herrschaft sichert: Die Eroberung der Staatsmacht von unten ist in die zeitlichen Schranken der Narrenherrschaft verschoben; die Verrücktheit des Volkes, die imaginäre Entmachtung der Herren, wird zu einem Stützpunkt ihrer Führung. Doch sind alle diese zeitlich begrenzten und verschobenen Formen der Wiederaneignung von Vergesellschaftungskompetenzen umkämpft. Sie können zu Kristallisationspunkten von Widerstand werden.
➫ Alltag, Angst/Furcht, Befreiung, Dialektik, Gegenkultur, Gegenmacht, Gegenöffentlichkeit, Gemeinwesen, Geschlechterverhältnisse, Gleichheit, Hegemonie, Herrschaft, herrschaftsfreie Gesellschaft, Hexe, Hexenverfolgung, Judenfeindschaft, Karikatur, Kirche, kollektive Erinnerung, Klassenherrschaft, Knechtschaft, Komisches, Körper, Kultur, Kulturrevolution, Lachen, Normalisierung, Oben/Unten, Ordnung, Pariser Mai, Pogrom, Religion, Revolution, Satire, Schlaraffenland, Sexualität, Sklaverei, Stalinismus, Unterdrückung, Utopie, Volkskultur (vorkapitalistische), Verfremdung, verkehrte Welt, Verkehrung, Volk, Widerstand, Witz, Zensur