kleineres Übel

A: ahwan aš-šarrain. – E: lesser evil. – F: moindre mal. – R: men’šee zlo. – S: mal menor. – C: cie 次恶

Wolfgang Fritz Haug (I.), Victor Wallis (II.)

HKWM 7/I, 2008, Spalten 990-1002

I. Die Rede vom kÜ besagt zunächst, dass man ein Übel dann in Kauf nimmt, wenn man damit ein größeres Übel vermeiden kann. Solange man in dieser Alternative zweier Übel gefangen ist, scheint es keinen Weg zum substanziell Besseren zu geben. Diese Erfahrung spiegelt sich in der Bedeutung, die der Rede vom kÜ im Sprachgebrauch der marxistischen Linken zugewachsen ist. Seit der Spaltung der Arbeiterbewegung im Gefolge des sozialdemokratischen Versagens bei der Entfesselung des Ersten Weltkriegs ist »kÜ« eine gängige Kennzeichnung für »Sozialdemokratismus«. Die Redewendung soll dann besagen, dass die Bevorzugung des kleineren vor dem größeren Übel selbst ein Übel ist. Im Namen der Radikalität wird dann das Abwägen schlechthin preisgegeben. Doch damit stünde die politische Rationalität insgesamt in Frage, und die Grenze zum politischen Abenteurertum wäre gefallen.

Der richtige Weg muss offenbar anders verlaufen: Die Kritik des kÜ muss dieses als nur scheinbar oder nur momentan kleiner ausweisen. Am Abwägen führt kein rationaler Weg vorbei. Die notwendige Argumentation lässt sich bei Rosa Luxemburg beobachten, wenn sie von einem scheinbaren Ausweg sagt: »Ein solches Heilmittel gleicht aber der Krankheit wie ein Regentropfen dem anderen und kann nur bis zu einem gewissen Zeitpunkt als das kÜ gelten.« (…) Wenn die Erwartung besteht, »dass die Arznei selbst in Krankheit umschlägt« (…), dann kann das kÜ als Durchgang zum Übel schlechthin gelten. Der Wirklichkeitsgehalt solcher Erwartungen und damit allen strategischen Abwägens erschließt sich freilich nur in der Analyse einer konkreten Situation.

II. Der Begriff des kÜ betrifft grundsätzlich jede Auswahl zwischen Alternativen, ob von Individuen oder von Organisationen; er kann sich auf spezifische Aktionen oder umfassende Systeme beziehen und wird von jeder politischen Richtung in Anspruch genommen. In marxistischer Tradition wurde er in der Regel verwendet, wenn es zu entscheiden galt, ob man vorübergehend die eine oder andere politische Formation des Bürgertums taktisch unterstützt. Freilich kann das entscheidende Argument für eine Strategie des kÜ (mit oder ohne Verwendung des Terms) auf unterschiedlichen Ebenen der Allgemeinheit formuliert werden. Es kann sich auf grundlegende institutionelle Rahmenbedingungen, etwa die Alternative zwischen demokratischer Republik und Monarchie, Bonapartismus oder Faschismus, beziehen; es kann einen strategischen Rückzug oder einen Kompromiss rechtfertigen, um das Überleben der Bewegung oder des Regimes zu gewährleisten. Innerhalb einer demokratischen Republik kann es benutzt werden, um eine Einheitsfront mit bestimmten bürgerlichen Parteien gegen eine repressive Politik oder für eine fortschrittliche Sozialpolitik zu rechtfertigen. Im spezifischen Kontext von Wahlkämpfen kann es auf die Unterstützung einer Nicht-Arbeiterpartei gegen eine andere oder eines Kandidaten gegen einen anderen angewandt werden, wenn der begünstigte Kandidat ›weniger schlecht‹ als der andere ist. Nicht alle Kompromisse beinhalten die Wahl eines kÜ. Während z.B. Parteienbündnisse in einer Volksfront auf Kompromissen beruhen können, die die Handlungsbedingungen aller Beteiligten erweitern, werden kÜ-Entscheidungen in der Regel in ungünstigen Kräftekonstellationen getroffen, in denen man sich in der Defensive befindet.

Den unterschiedlichen Varianten ist der grundlegende Anspruch gemeinsam, dass die Entscheidungen dem angenommenen Gut dienen, d.h. sich langfristig auf eine Gesellschaft der »assoziierten Produzenten« (…) orientieren bzw. kurzfristig auf die Entwicklung einer unabhängigen Arbeiterbewegung oder die Konsolidierung eines revolutionären Regimes. In jedem Fall rangieren die Antworten zwischen einer maximalistischen Position, bei der jede Differenzierung zwischen besseren und schlimmeren Formen bürgerlicher Herrschaft hinter der Aufgabe der Revolution zurücktritt, und einer minimalistischen Position, die derart von der Aufgabe absorbiert ist, auf unmittelbare Bedrohungen zu antworten, dass sie das ursprüngliche Ziel der Bewegung aus dem Auge verliert. Maximalisten benutzen den Term kÜ zuweilen als abfälligen Begriff, um jede Vorstellung einer begrenzten und vorübergehenden Unterstützung einer bürgerlichen Formation zu diskreditieren. Freilich sind die Bestimmungen eines kÜ (oder eines geringsten Schadens) ein notwendiger Bestandteil jeder Entscheidung, die defensive Berechnungen erfordert. Da diese unverzichtbar sind, besteht die Aufgabe einer revolutionären Partei darin, sie angemessen zu begrenzen. – Außerhalb des Marxismus und jenseits rein pragmatischer Berechnungen hat der Begriff eine neue Funktion in der ›ethischen‹ Rechtfertigung des Kapitalismus in der Phase ungebremster militärischer US-Interventionen im Weltmaßstab erhalten.

Bündnispolitik, Entscheidung, Ethik, Klassenkampf, Kollektivierung, Kompromiss, Konjunktur (politisch-historische), Kräfteverhältnis, Krieg und Frieden, Liberalismus, Neue Ökonomische Politik, Niederlage, Opfer, Opportunismus, Parlamentarismus, Politik, Politik außerhalb des Staates, Prinzipien, Radikalität/radikal, Rationalität, revolutionäre Realpolitik, Russische Revolution, Sozialfaschismus, Spaltung, Strategie/Taktik, Tendenzen, Terrorismus, Totalitarismus, transitorische Notwendigkeit, Verrat, Volksfront, Wahl, Wahlen

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