Imaginäres
A: al-`ayālī. – E: the imaginary. – F: l’imaginaire. – R: mnimoe, voobražaemoe. – S: lo imaginario. – C: xiangxiang, xugou 想象 虚构
Dick Boer
HKWM 6/I, 2004, Spalten 787-798
War das I für die Aufklärung v.a. das Nicht-Wirkliche oder Fiktive, an dessen Stelle rationales Erkennen der Wirklichkeit treten sollte, so für die Romantik eine Produktivkraft, die, indem sie sich die Welt als ganz anders als die faktische vorzustellen vermag, diese auch verändern kann. Marx begriff das I als eine Wirklichkeit sui generis: als die Art, wie die kapitalistische Produktionsweise ›erscheint‹ und wodurch sie überzeugend ›wirkt‹. Aufklärung über das I ist notwendig, damit die Welt des Kapitalismus in ihrer Wirklichkeit – als eine ›verkehrte‹ – erkannt wird. Ernst Bloch machte den Versuch, das I als Produktivkraft wieder in den Marxismus zu integrieren: als den »Wärmestrom«, der den »Kältestrom« der marxistischen Analyse (PH) beflügelt, statt ihn weltflüchtig zu unterwandern.
Das produktive Moment des I wird auch von Jean-Paul Sartre betont, der seine gleichnamige phänomenologische Abhandlung unter deutscher Besetzung publizierte. Wenn das I ein freies Bewusstsein voraussetzt, so konstituiert sich das imaginierte Irreale doch stets »auf dem Hintergrund der Welt, die es negiert« (1940/1971). Jede »konkrete und reale Situation des Bewusstseins in der Welt geht mit Imaginärem schwanger« (…). Dass auch in der Situation der Niederlage den einzelnen Bewusstseinen die Möglichkeit zukommt, diese neue Welt zu verneinen, ist die widerständige Botschaft.
Der erste, der das I als konstitutiven Begriff der marxistischen Theorie selber ausgearbeitet hat, ist Louis Althusser. Das I ist als ein ›Verkennen‹ zugleich ›Anerkennen‹ der Wirklichkeit, d.h. eines ursprünglichen Verhältnisses der Menschen zur Wirklichkeit, das zwar theoretisch erkannt, aber nicht überwunden werden kann. Nur unter dieser Voraussetzung wird es möglich sein, das I als eigenständiges ›Kampffeld‹ für die Veränderung der Verhältnisse fruchtbar zu machen.
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