historischer Kompromiss
A: at-taswiya at-tārīḫīya. – E: historic compromise. – F: compromis historique. – R: istoričeskij kompromiss. – S: compromiso histórico. – C: lishi de tuoxie 历史的妥协
Frank Deppe
HKWM 6/I, 2004, Spalten 311-315
Enrico Berlinguer (1922-1984), seit 1972 – als Nachfolger von Luigi Longo – Generalsekretär der Italienischen Kommunistischen Partei (PCI), schrieb im September/Oktober 1973 eine Artikelserie Gedanken zu Italien nach den Ereignissen in Chile. Dort hatte gerade die Armee unter der Führung des Generals Augusto Pinochet (mit Unterstützung der US-Regierung) gegen die demokratisch legitimierte Regierung des Sozialisten Salvador Allende geputscht, diesen sowie zahlreiche andere Linke ermordet und ein Terrorregime errichtet. »Was für Togliatti einst die griechische Perspektive« – in Griechenland war nach der Niederlage der Nazis die kommunistisch geführte Widerstandsbewegung mit britischer Unterstützung zerschlagen worden –, »wurde für Berlinguer die Warnung vor der ›chilenischen Perspektive‹« (Schoch 1988). Er fragte, welche Strategie und Taktik der PCI verfolgen müsse, um in Italien, wo sich die Möglichkeit einer Veränderung der Machtverhältnisse zugunsten der Linken abzeichnete, einen reaktionären Gegenschlag zu verhindern. Es war abzusehen, dass die extreme Rechte (unterstützt von Geheimdiensten, Regierungskreisen der Democrazia Cristiana [DC], NATO etc.) auf den Vormarsch der Linken mit einer Strategie der gewaltsamen Destabilisierung des Landes (durch ›faschistische Provokationen‹, terroristische Anschläge u. dgl.) reagieren würde, um die Notwendigkeit einer Diktatur gegen die Gefahr einer ›kommunistischen Machtergreifung‹ zu legitimieren.
Die Abwehr dieser Gefahr im Prozess der »demokratischen, antifaschistischen Revolution« konnte Berlinguer zufolge nur gelingen, wenn der PCI in der Lage sei, an der Konstitution eines »geschichtlichen Blocks« politischer und sozialer Kräfte mitzuwirken, die – als Mehrheit des Volkes – diesen Weg unterstützen. »Die das Land belastenden Probleme, die ständig drohende Gefahr reaktionärer Abenteuer und die Notwendigkeit, der Nation endlich einen sicheren Weg der ökonomischen Entwicklung, der sozialen Erneuerung und des demokratischen Fortschritts zu öffnen, machen es immer dringlicher, zu dem zu gelangen, was als der neue, große ›historische Kompromiss‹ zwischen den Kräften, die die Mehrheit des italienischen Volkes vereinen und vertreten, bezeichnet werden kann.« (Berlinguer u.a. 1976) In der historisch-politischen Situation der frühen 1970er Jahre bestand das Neue dieses Vorschlages darin, dass der PCI für den Weg zum Sozialismus nicht allein ein Bündnis der Linksparteien forderte, sondern den Einschluss von Kräften der »katholischen Welt«, d.h. auch von Teilen der DC, vorschlug. Nur so könne eine hinreichend breite Mehrheit gesichert werden, die das Land gegen die Anschläge der Reaktion sicher mache. Dieser Vorschlag wurde in der Öffentlichkeit weithin als eigenständiger Beitrag des Eurokommunismus zu einer sozialistischen Transformationsstrategie in den entwickelten kapitalistischen Gesellschaften Westeuropas angesehen.
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