Formalabstraktion/Realabstraktion
A: taǧrīd šaklī/taǧrīd wāqi‛ī. – E: formal abstraction / real abstraction. – F: abstraction formelle/abstraction réelle. – R: formal’naja abstrakcija/real’naja abstrakcija. – S: abstracción formal/abstracción real. – C: xingshi chouxiang / shiji chouxiang
Veikko Pietilä
HKWM 4, 1999, Spalten 616-619
In KHS argumentiert Marx, die hegelsche Abstraktion von Sachen und ihren konkreten Bestimmungen zugunsten der »Sache der Logik«, wobei die »abstraktlogischen Kategorien« zu »Subjekten« gemacht werden, lasse die wirklichen Bestimmungen »als formell« erscheinen (…).
In der marxschen KrpÖ dient der Begriff der F zur Kritik eines wichtigen Aspekts der Methode der klassischen politischen Ökonomie. Marx zufolge hat Ricardo, nachdem er »das Gesetz der Werte«, die »Bestimmung der Wertgröße der Ware durch die Arbeitszeit«, in Anlehnung an Smith herausgefunden hatte, unmittelbar »die übrigen ökonomischen Verhältnisse« diesem »einfachen Wertverhältnis anzupassen«, also eine »große Mannigfaltigkeit der Erscheinung« auf dieses Gesetz zurückzuführen versucht (TM). Diese Reduktion überspringt »notwendige Mittelglieder« und fasst die Erscheinungen »direkt als Bewähr oder Darstellung« des betreffenden Gesetzes auf (…). Ein reduktives Theorem dieser Art nennt Marx »formale Abstraktion« (…) oder »gewaltsame Abstraktion« (…): es handelt sich dabei um »formelle Anwendung derselben Prinzipien auf verschiedenes […] Material« (…).
Gelegentlich wird solche F als Abstraktion lockeschen Typs aufgefasst (u.a. Zelený 1962), was jedoch anfechtbar ist (vgl. Iljenkow 1960). In den TM sagt Marx, dass die Philosophie Lockes »der ganzen spätren englischen Ökonomie zur Grundlage aller ihrer Vorstellungen diente« (…); ob dazu auch methodische Vorstellungen gerechnet sind, bleibt aber unbestimmt. Die Abstraktionen Ricardos sind überhistorische, formale Konstruktionen des denkenden Kopfes.
Dem setzt Marx das methodische Postulat entgegen, die begrifflichen Abstraktionen wirklichen Relationen und Prozessen anzumessen. Die fundamentalen Abstraktionen im Kapital, wie abstrakte Arbeit, Wert, Mehrwert, Kapital im allgemeinen u.dgl., beanspruchen, »historische Abstraktionen« zu sein, die »nur auf der Grundlage einer bestimmten ökonomischen Entwicklung der Gesellschaft vorgenommen werden« können (…). Sie sind etwas ganz Reales. Z.B. sei das »Kapital im allgemeinen«, obwohl es »nur als eine Abstraktion« erscheint, »selbst eine reelle Existenz« (Gr). Weiter sei die im »gesellschaftlichen Produktionsprozess täglich« vollzogene, »als eine Abstraktion« erscheinende »Auflösung aller Waren in Arbeitszeit […] keine größere Abstraktion, aber zugleich keine minder reelle, als die aller organischen Körper in Luft« (Zur Kritik). Schließlich: »Diejenigen, die die Verselbständigung des Werts als bloße Abstraktion betrachten, vergessen, dass die Bewegung des industriellen Kapitals diese Abstraktion in actu ist.« (K II)
Um die Realität dieser Abstraktionen zu verstehen, muss man den Vergesellschaftungsmodus der Arbeit im Kapitalismus ins Auge fassen. Dort wird ihr gesellschaftlicher Zusammenhang nur mittelbar, durch den nach dem ökonomischen Gewinn zielenden Tausch der Arbeitsprodukte hergestellt. Dies ruft spezifische Wirkungszusammenhänge hervor, die sich hinter dem Rücken der Menschen, denen dies nicht bewusst ist, verwirklichen. Es ist eben dieser Vergesellschaftungsmodus, der im Kapitalismus spezifische R.en erzeugt. Erfassbar sind sie nur dadurch, dass man den gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang, d.h. den Produktions- und Austauschprozess im Ganzen untersucht.
Mit dem Begriff R gibt Marx also dem Denken die Aufgabe, seine Bestimmungen und Unterscheidungen aus der Bewegung des jeweils zu untersuchenden Gegenstands selbst – in diesem Fall aus dem Vergesellschaftungsprozess in seiner kapitalistischen Spezifik – zu entwickeln. Im späteren Marxismus ist diese Ausdehnung eines primär für Denkakte geprägten Begriffs auf reale Verhältnisse umstritten.
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